Schicksal der Tochter als MotivationWie aus einem Fahrradladen ein Lebenswerk wird
- Die Behinderung ihrer Tochter hat die Sicht der Schumachers auf das Thema Inklusion verändert.
- Seit ihrem Tod ist aus dem familiären Fahrradbetrieb in Zülpich ein gemeinnütziges Lebenswerk geworden.
- Auf dem „Hannah Hof“ treffen sich Menschen mit und ohne Beeinträchtigung – die Pläne der Schumachers gehen aber weiter.
Bessenich – Aus dem Obergeschoss des alten Bauernhofs schallt elektronische Dance-Musik. Wo früher das Futter für Mastschweine lagerte, treten jetzt drei Männer in voller Rennradkluft in die Pedale. Ein virtuelles Rennen tobt in dem früheren Viehstall im Dorf Bessenich, das zur nordrhein-westfälischen Stadt Zülpich zählt. Die drei Fahrer blicken auf die Fernseher an der Wand. Zwei mittelalte Hobbysportler und ein junger Mann, der Sohn eines der beiden, er ist geistig behindert, nimmt aber hier selbstverständlich am sportlichen Geschehen teil.
Der junge Mann ist nicht nur beim Training in diesem ungewöhnlichen Radtreff zu sehen, sondern arbeitet als Praktikant auch im Familienbetrieb Schumacher, einem traditionsreichen Fahrradgeschäft, das heute eigene Wege wählt. 91 Jahre nach Gründung der Firma behauptet sich Fahrrad Schumacher nicht nur mit dem Angebot seiner innerstädtischen Filiale in Zülpich.
Vielmehr schaffen die Schumachers neue Orte fürs Fahrradfahren, für den sozialen Austausch und für eine gerechtere Gesellschaft. Die eigene Familiengeschichte hat die Schumachers dazu motiviert, neben dem Verkauf und dem Service einen Ort für Menschen mit Beeinträchtigung zu schaffen.
Die Schumachers betreiben ein Geschäft mit Tradition
Das Radgeschäft der Familie Schumacher gibt es seit 1929, es läuft heute in der vierten Generation. Jörg Schumacher führte gegen den Widerstand seines Vaters Mountainbikes ins Sortiment ein, er ist aber jemand, der im Gespräch wenig über Produkte und Marketing redet, dafür viel über Sinn seiner Arbeit und gesellschaftliches Engagement.
Heute führt Jörg Schumacher das Unternehmen gleichberechtigt mit seiner Frau Alexandra und seinem Sohn Henrik, der 21 ist und nach dem Abitur die Lehre zum Einzelhandelskaufmann absolvierte. Der junge Mann fährt wie der Vater gerne Rennrad, er berät die Kunden, bringt den Gästen Kaffee und frische Ideen in die Firma. Die Zukunft der Schumachers sieht anders aus als die vieler Konkurrenten.
„Wir haben uns vor etwa zehn Jahren gegen Wachstum entschieden, um ein kleiner Fahrradbetrieb zu bleiben“, sagt Jörg Schumacher. Gemeinsam mit seiner Frau Alexandra entschied er sich gegen einen Filialneubau in einem Gewerbegebiet, gegen größere Flächen und mehr Mitarbeiter, gegen etwas, was Schumacher „Aldisierung“ nennt. Man stufte runter, statt aufzustocken. Befragte die Kunden.
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Während man sich mit Schumacher über dieses Thema unterhält, laufen Männer in Sportoutfits durch den Eingang einer umgebauten Scheune – und das ist nicht zu verstehen ohne die persönlichere Seite der Familiengeschichte der Schumachers. Denn Alexandra und Jörg hatten neben Henrik noch ein zweites Kind. Ihre Tochter Hannah kam im Dezember 2000 zur Welt, damals als kerngesundes Baby. Hannah war neun Monate alt, als sie ein Zittern im Kopf zeigte. Es entstand eine Epilepsie, das Hirn des Mädchens war geschädigt.
Es war ein Schock für die Schumachers, sie mussten es erst verarbeiten, dass ihr Kind mit einer schweren Behinderung aufwachsen würde. Ein Schicksal, das den Schumachers später als wahrscheinlicher Impfschaden diagnostiziert worden sei, vermutlich verursacht von einem Impfstoff, der in der Folge vom Markt verschwand. Die Schumachers wuchsen mit Hannah in eine andere Art des Lebens, des Glaubens. Die Religion spielt für sie heute eine große Rolle.
Hannah sollte nicht in eine Pflegeeinrichtung
Andere Dinge wurden wichtiger als das Business. „Wir haben uns gefragt, was aus unserer Tochter wird, wenn sie aus der Förderschule entlassen wird – und auch, wenn wir einmal nicht mehr sind.“ Also besuchten sie vor etwa dreieinhalb Jahren eine Einrichtung für Menschen mit Einschränkung. Jörg Schumacher erinnert sich an den Besuch in jenem Teil des Hauses für die pflegebedürftigen Menschen. „Meine Frau und ich haben sofort gesagt, dass wir Hannah niemals in eine solche Einrichtung ziehen lassen würden.“
Sie sahen einen riesigen Betrieb, in dem das Persönliche für sie schwer zu erkennen war. „Wir wollen die Arbeit in solchen Einrichtungen überhaupt nicht kritisieren, wir wissen um die Qualitäten des Personals – aber wir wollten für unsere Tochter einen anderen Ort.“
Jetzt gibt es diesen Ort: Eben dort, wo sich heute die Herren zum virtuellen Radrennen treffen. Hannah erlebt ihn nicht mehr. Sie starb im März 2019.
Was ist Epilepsie?
Als Epilepsie bezeichnet man eine Fehlfunktion des Gehirns. Sie wird durch Nervenzellen ausgelöst, die plötzlich gleichzeitig Impulse abfeuern und sich elektrisch entladen.
Die Ursachen sind zum Teil auf Krankheiten wie Schlaganfall oder eine Gehirnhautentzündung zurückzuführen, zum Teil aber auch unbekannt. Ärzte gehen davon aus, dass genetische Veranlagung in Kombination mit einer Erkrankung die Krampfanfälle auslösen.
Doch die Schumachers machen weiter, denn aus dem Familienprojekt ist ein Lebenswerk geworden und auch eines, an dem viele Freiwillige mitwirken. „Wir wollen einen Ort schaffen, an dem Inklusion nicht nur ein Anspruch ist, sondern auf natürliche Art zum normalen Leben gehört“, sagt Schumacher. Der „Hannah Hof“, so der Name, soll vieles verbinden und immer Menschen mit Einschränkungen einbeziehen. Die Schumachers möchten eine Werkstätte bauen und einen Wohnort für vier bis fünf Schwerstbehinderte schaffen, Arbeit soll es in einem Küchengarten geben und in dem Fahrradladen namens Velodome.
Nebenan gibt es Zimmer, die später für inklusives Wohnen genutzt werden sollen. „Unsere Idee ist, dass die beeinträchtigen Menschen hier nicht in der Überzahl sind, sondern sich als Individuen an einem lebhaften Ort bewegen, ohne dass ein eigenartiges Gefühl entsteht“, sagt Schumacher.
Familie Schumacher braucht Geld für ihr Projekt
Die Familie hat viel Geld in die Hand genommen, um den Hof zu kaufen, um die Renovierung zu beginnen. Das Rennradsegment des Unternehmens haben die Schumachers komplett in den Hof gezogen, die Gewinne fließen in das gemeinnützige Projekt. Das große Ziel ist der Anbau, der im kommenden Jahr beginnen soll, damit hier die Arbeits- und Wohnplätze entstehen können – zunächst wenn Familien etwa wochenweise Betreuungsbedarf für ihre Angehörigen mit Einschränkungen haben. Zwischen 650.000 und 750.000 Euro sind für den Bau nötig, beziffert Schumacher. Wenn der Anbau steht, sei alles darstellbar, er hat sich mit kaufmännischen Augen die Kalkulation von Behinderteneinrichtungen angeschaut. „Das lässt sich alles hinbekommen, aber der Weg bis dahin erfordert viel Geduld.“ Mit einem Verein, den die Schumachers mit Freunden gegründet haben, werben sie um Fördermittel und Spenden.
Ein konkretes Geschäft ist die Kinder-Fahrrad-Flatrate. Die Kunden bezahlen hier jährlich je nach Neuwert des Rades 40 bis 185 Euro – und können jederzeit das alte Rad abgeben und ein neues, zur Größe passendes Fahrrad erhalten. Das Modell gibt es nun schon seit drei Jahren, inzwischen hat man einige Hundert Kinderräder im Umlauf und eine große Auswahl in der Ausstellung. Die benutzten Räder werden auch mit Hilfe des beeinträchtigen Praktikanten wieder für den nächsten Kunden vorbereitet – und die Nachfrage ist in diesem Jahr gewaltig.
Es fehlen noch Wände, es fehlen Fenster, es fehlt Geld – aber Jörg Schumacher blickt klar in die Zukunft. Das Paar will hier etwas voranbringen, das der Gesellschaft nützt und Spaß macht. „Bislang haben wir einen rechtlichen Anspruch auf Inklusion, aber nur wenige Orte, wo es diese Inklusion wirklich gibt“, sagt Schumacher.
Er erinnert sich, wie sein heutiger Praktikant das erste Mal in den Fahrradladen in Zülpich kam. Sein Vater kam als Kunde, er hatte den behinderten Sohn vorab angekündigt, um Verständnis werbend. Heute fährt der junge Mann selbstverständlich mit beim Indoor-Training, und zwar mit Menschen ohne Beeinträchtigung.