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Hannelore Kraft im Interview„Autoindustrie hält ihr Versprechen nicht“

Lesezeit 8 Minuten

SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft zu Gast im Neven DuMont Haus

Frau Kraft, wie es derzeit auch nach der aktuellen Forsa-Umfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und des „Express“ aussieht, führt bei der Regierungsbildung an der SPD kein Weg vorbei. Beruhigt Sie das?

Nein. Ich glaube keinen Umfragen mehr. Wir Sozialdemokraten werden die letzten Wochen nutzen und für unsere Inhalte werben.

Sie sind seit sieben Jahren Ministerpräsidentin, hat die Macht Sie verändert?

Das müssen andere beurteilen. Ich glaube aber, dass ich mich nicht verändert habe.

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Wenn Sie die Umfragen nicht mehr ernst nehmen: Auf welche Rückmeldungen vertrauen Sie dann?

Ich bin in den letzten Tagen vor der Wahl im Tunnel, da ich sehr viele Wahlkampftermine mache und so kein umfassendes Bild mehr habe. Aber die Kollegen vor Ort sagen mir, dass der Wahlkampf sehr gut läuft. Da höre ich überall: Die Partei ist unheimlich motiviert und fleißig auf der Straße. Wir haben seit Anfang des Jahres mehr als 4300 neue Mitglieder gewonnen.

Und was haben Sie vor?

Ein Riesenthema bei Bildung ist die Stärkung der Qualität bei den Kitas, flexiblere Öffnungszeiten und die Abschaffung der Elterngebühren für 30 Stunden. Ein anderes wichtiges Thema: Unsere Zusage, auch die Meisterausbildung gebührenfrei zu machen und ein landesweites Azubi-Ticket einzuführen, damit auch die Auszubildenden günstiger mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können. Das hat mit Wertschätzung für die duale Ausbildung und mit Gerechtigkeit zu tun.

„Können nicht an jede Ecke einen Polizisten stellen“

Der Fall Amri und andere Pannen haben den nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger unter Druck gesetzt. Kostet das Wählerstimmen?

Im Fall Amri sind Fehler gemacht worden. Einer war sicher, dass Amri trotz der Warnungen der NRW-Behörden als nicht mehr so gefährlich eingestuft wurde, weil er in Berlin in die Drogenkriminalität geriet. Und da die rechtlichen Möglichkeiten nicht ausreichten, Amri in Abschiebehaft zu nehmen, ändert die Bundesregierung jetzt die gesetzliche Grundlage.

Welche Rolle spielt das Thema Innere Sicherheit?

An Wahlkampfständen und in Gesprächen werde ich manchmal auf Wohnungseinbrüche angesprochen. Das ist ein wichtiges Thema, denn ein Wohnungseinbruch hinterlässt auch seelische Spuren. Wir setzen neue Fahndungsinstrumente ein. Auch dadurch ist die Zahl der Wohnungseinbrüche in NRW im vergangenen Jahr um 15 Prozent zurückgegangen. Wir müssen aber noch besser werden. Deshalb drängen wir unter anderem in Gesprächen mit der Immobilienwirtschaft darauf, dass mehr für den Einbruchsschutz getan wird.

Können sich die Menschen in NRW sicher fühlen?

Ich nehme den Eindruck der Menschen ernst, auch wenn die Statistiken teilweise ein anderes Bild wiedergeben. Die Jugendkriminalität ist auf dem niedrigsten Stand seit 45 Jahren. Die schweren Straftaten gegen Leib und Leben sind seit 2010 zurückgegangen. Aber ich erlebe immer wieder im Dialog mit Bürgern, dass von Angst-Räumen die Rede ist. Das Thema darf man nicht wegwischen. Wir werden hier weitere Maßnahmen ergreifen: mehr Videobeobachtung, wo es notwendig ist und die Beleuchtung von Plätzen verbessern. Wir können aber nicht an jede Ecke einen Polizisten stellen.

Was dann?

Wir haben schon vieles auf den Weg gebracht: Wir entlasten die Polizei durch mehr Verwaltungsfachkräfte, damit wieder mehr Polizisten auf Streife gehen können. Wir haben die Zahl der Neueinstellungen von 1100 im Jahr 2010 auf jetzt 2000 erhöht. Und wir werden zukünftig auf 2300 aufstocken. Unser Ziel ist, mehr Polizeipräsenz in den Quartieren, mehr Kripobeamte zur besseren Verbrechensaufklärung und eine ausreichende Polizeistärke im ländlichen Raum. Dort darf sich die Sicherheitslage nicht verschlechtern, nur weil wir mehr Polizisten in den Großstädten brauchen.

„Es gibt keine No-Go-Areas in NRW“

Was ist denn mit der Schleierfahndung, die fast alle Bundesländer anwenden?

Unsere Polizei kontrolliert gezielt Personen und Fahrzeuge. Das ist wirkungsvoller als anlasslose und verdachtsunabhängige Überprüfungen von allen Personen, also auch den völlig unbescholtenen Bürgern. Das Ganze ist immer eine Gratwanderung zwischen Sicherheit und dem Schutz der Privatsphäre. Die Polizei kann aber bestimmte Orte definieren, wo sie Hinweise auf kriminelle Machenschaften hat. Dort überprüft sie dann auch ohne konkreten Anlass.

Sie meinen Bereiche, die von der Polizei intern als „verrufene Orte“ bezeichnet werden, die man gemeinhin aber No-go-Areas nennt.

Das ist ausdrücklich kein anderes Wort für No-go-Area. Das kann zum Beispiel eine Gaststätte sein, in der sich kriminelle Gruppierungen wie Rocker treffen. Es gibt keine No-go-Areas in NRW. Denn das würde bedeuten, es gäbe Orte, in die kein Polizist mehr reingeht.

Sehen das die Menschen in Duisburg auch so?

Ich war mit dem Duisburger Oberbürgermeister Sören Link in Marxloh unterwegs. Der Stadtteil wird in den Medien immer als die No-go-Area schlechthin dargestellt.

Und?

Wir sind durch den Stadtteil gegangen. Ohne Zweifel ist da nicht alles gut. Wir haben auch die Polizeistärke vor Ort erhöht. Die Leute sagen, die Polizei ist da. Wir haben in einem Restaurant zu Mittag gegessen. Der Besitzer sagte mir, er verstehe das ganze Gerede nicht. Eine undifferenzierte Beurteilung wird dem Stadtteil und den Menschen, die gerne dort leben, nicht gerecht. Bei den Problembereichen, die es gibt, haben wir angepackt.

Wie sehen die aus?

Es gibt eine massive Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien, 17.000 allein in Duisburg. Kriminelle Banden organisieren dort das Wohnen in Schrottimmobilien, die sie zuvor ersteigert haben. Rund zehn Prozent Anzahlung reichen, um die Räume erst mal für ein paar Monate zu nutzen. Die kriminellen Clans machen aus diesen Wohnungen unter erbärmlichen Wohnbedingungen Bettenlager. Sie locken die Menschen aus Südosteuropa an, geben ihnen Scheinarbeitsverträge bei Scheinarbeitgebern, um sie als Aufstocker für Sozialleistungen zum Amt zu schicken, melden die Kinder bei der Kindergeldstelle an, lassen sich eine Kontovollmacht geben und kassieren ab.

Was tut das Land dagegen?

Wir haben schon 2014 ein Wohnungsaufsichtsgesetz verabschiedet, damit Kommunen gegen skrupellose Vermieter vorgehen können. Als das nicht reichte, habe ich vor fast einem Jahr in Düsseldorf alle Stellen an den Tisch geholt: Bundesministerien, Zoll, Arbeitsagentur, Kindergeldstelle, Polizei, Justiz, Stadt, Ordnungsdienste. Und wir haben uns eng abgestimmt und gemeinsam gehandelt.

Wie denn?

Zum einen werden Razzien durchgeführt, um dieses kriminelle System aufzudecken. Deren Ergebnisse sind erschütternd, wie viel Geld da abgezockt wird. Das ist aber nur ein Baustein. Unser Wohnungsaufsichtsgesetz von 2014 erlaubte es einer Stadt wie Duisburg, diese Schrottimmobilien zu schließen. Der Oberbürgermeister hat so bereits mehr als ein Dutzend dieser Häuser zugemacht. Durch unsere Initiative hat der Bund zusätzlich die Fördervoraussetzungen geschaffen, damit die Städte die Schrottimmobilien kaufen und abreißen können. Das Ziel ist, dass dort durch Stadtentwicklungsprojekte diese Viertel gezielt aufgewertet werden. Mit Förderung des Landes. In Köln wird die übrigens nicht abgerufen. Wir lassen die Städte nicht im Stich.

„Werden weiter mit Staus leben müssen“

Das klingt nach einer schnellen Lösung. Beim Verkehr in NRW klappt das leider nicht.

Der Erhalt unserer Infrastruktur ist über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Da ist jahrelang viel Fördergeld in den Osten geflossen. Das war damals auch richtig so. Aber jetzt muss der Westen dran sein! Und 14 Milliarden Euro bis 2030 für Autobahnen und Brücken und acht Milliarden für Schienen und moderne Bahnhöfe in NRW, die hier zur Verfügung stehen: Das ist ein Wort. Als das Geld dann endlich kam, fehlten uns am Anfang die Ingenieure bei Straßen NRW. Da hatte die Vorgängerregierung unter der Leitlinie „Privat vor Staat“ über 100 Stellen abgebaut. Doch seit 2014 haben wir 137 Millionen Euro mehr abgerufen als vorgesehen, weil andere Bundesländer Geld liegengelassen haben.

Und dann kam die Leverkusener Brücke. War das die Wende?

Der schlimme Zustand der Rheinbrücke hat auch in Berlin deutlich gemacht, wie dringend der Bund im Westen investieren muss. Angesichts des wachsenden Verkehrs und der steigenden Zahl der Lkw bauen wir seit Jahren unter anderem auf dem Kölner Ring, im Ruhrgebiet an der A 40 und der A 42. Es wurde immer investiert, aber das Geld hat nie gereicht. Jetzt haben wir es und werden es bis 2030 verbauen. Deshalb werden wir weiterhin mit Staus leben müssen. Wer auf Wahlplakaten was anderes verspricht, geht nicht ehrlich mit den Leuten um.

Die Autofahrer stehen im Dauerstau – und jetzt drohen auch noch Fahrverbote für Diesel.

Mich ärgert massiv, dass die Autoindustrie nicht eingehalten hat, was sie versprochen hat. Es gibt regelmäßige Überschreitungen an Messstellen für Luftreinheit in Großstädten wie Köln oder Düsseldorf.

Was ist zu tun?

Es kann nicht sein, dass Pendler für die Versäumnisse der Autoindustrie bestraft werden. Ich will keine Fahrverbote für Dieselfahrzeuge.

Sondern?

Als Land müssen wir dort ansetzen, wo wir etwas tun können. Etwa bei den Bussen. Gerade die sind viel auf den hochbelasteten Straßen unterwegs. Deshalb werden wir die Umstellung auf Busse mit Elektroantrieb fördern. Köln hat damit angefangen, Solingen auch. Vorrangig gilt es, die Umstellung dort zu forcieren, wo die Grenzwerte überschritten sind. Auch bei dem permanent wachsenden Lieferverkehr, verursacht durch Internet-Bestellungen, müssen wir ansetzen. Die Post macht das schon konsequent und ist darüber zum Autobauer geworden. Sie stellt ihre Flotte auf Elektro um und verkauft die Fahrzeuge inzwischen auch. Technologie aus NRW-Hochschulen hilft dabei, Fahrverbote für Diesel zu verhindern.

Verkehrsinfarkt, Terror-Gefahr oder Migrationsprobleme: Da sind pragmatische Lösungen gefragt. Ist das Zeitalter der Ideologien nicht längst vorbei?

Das stimmt. Politik muss zeigen, dass es ein schnell lernendes System ist. Die Menschen erwarten von uns, dass wir Probleme schnell erkennen und lösen.