Der mächtigste Mann im Werksklub, Fernando Carro, zieht im Exklusiv-Interview eine teils kritische Saisonbilanz.
Bayer-KlubchefFernando Carro: „Bei Florian Wirtz gilt dasselbe wie bei Xabi Alonso“
Herr Carro, die Saison von Bayer 04 glich einer Achterbahnfahrt. Schrecklicher Beginn, Trainerwechsel, Frühjahrs-Hoch unter Xabi Alonso und Zittern am Schluss mit dem enttäuschenden Abschluss in Bochum. Wie fällt ihre Bilanz als Klubchef aus?
Spiel in Bochum war isoliert betrachtet sehr enttäuschend, in allen Belangen. Gewissermaßen ein Spiegelbild der miserablen Phase zu Beginn der Saison. Wir verschließen davor sicher nicht die Augen und werden unsere Lehren ziehen. Aber man muss auch sehen, wo wir im Herbst standen. Wir waren Vorletzter. Jetzt sitzen wir hier, blicken auf eine sehr erfolgreiche Europa-League-Kampagne zurück und beenden die Bundesligasaison auf einem Europapokalplatz. Das hätte bedeutend schlechter laufen können. Aber nochmal: wir lehnen uns nicht erleichtert zurück, wir werden unsere Lehren ziehen.
Welche Lehren werden das sein?
Wenn wir ehrlich miteinander sind: Wir können und müssen uns in punkto absoluter Professionalität auf dem Platz, aber auch in der und um die Kabine herum noch weiterentwickeln. Disziplin, volle Hingabe für den Beruf, Zielstrebigkeit – diese Tugenden müssen wir als Verantwortliche vorleben, die Spieler müssen sich damit identifizieren und sie umsetzen, Tag für Tag. Wir reden hier über Nuancen, über Details – aber genau die machen auf diesem Niveau den entscheidenden Unterschied. Als größten Erfolg der abgelaufenen Saison sehe ich dagegen die Unterstützung der Fans. In den letzten Wochen war sie teilweise euphorisch. Wir hatten so viele ausverkaufte Spiele und so viel Energie von den Rängen, speziell im Europapokal. Das war schon einmalig, obwohl wir in der Liga lange unter unseren Möglichkeiten gespielt haben und lange Zeit Platz sieben das einzig mögliche Ziel schien. Aber durchgehend stark war der Support unserer Anhänger: Der Rückhalt in schweren Zeiten und die Begeisterung in guten Zeiten.
Was ist verantwortlich für diese gestiegene Fan-Unterstützung?
In Bochum hat Bayer 04 sein 1500. Bundesligaspiel absolviert. Die Stadt Leverkusen ist nicht so groß wie andere Bundesliga-Standorte, aber in der Fan-Szene hat sich in den letzten 25 Jahren etwas entwickelt. Die BayArena hatte eine Auslastung von 95 Prozent in dieser Saison. Das ist ein Prozess, der sich über Jahre hinweg vollzogen hat. Er hat viel zu tun mit seriöser Arbeit, attraktivem Fußball, jungen Talenten, Top-Spielern, ambitionierten Trainern und regelmäßigen Teilnahmen am Europapokal. Das macht unsere Attraktivität seit vielen Jahren aus – und es hat Identität geschaffen, auch international. Nicht umsonst haben wir die drittgrößte digitale Anhängerschaft mit weltweit mehr als zehn Millionen Followern.
Trainer Xabi Alonso hat trotz vieler Verletzter den Turnaround geschafft und wurde dafür viel gelobt. Gleichzeitig wurde das Interesse großer Vereine an ihm bekannt. Wie sind Ihre Planungen mit ihm?
Die Planungen sind ja öffentlich. Wir haben einen Vertrag bis 2024. Xabi Alonso macht weiter. Er tut uns gut. Und wir tun ihm auch gut. Die Erfahrung, die er bei uns als Trainer in einem international ambitionierten Klub macht Xabi Alonso bei uns zum ersten Mal. Gleichzeitig profitieren wir als Verein von seiner Professionalität, von seiner Erfahrung und seinen Erfolgen im Fußball,
Dann müsste man sich schon Gedanken für die Zeit nach 2024 machen.
Darüber haben wir im Detail noch nicht geredet. In den nächsten Monaten werden wir das sicher tun. Aber jetzt haben wir keine Eile. Wir nicht und Xabi Alonso nicht.
Als Spanier haben Sie auch sprachlich einen anderen Zugang zu Ihrem Trainer als viele andere bei Bayer 04. Wie erleben Sie ihn persönlich?
Wenn wir uns nicht in Situationen befinden, in denen wir uns auf Englisch oder Deutsch unterhalten müssen, sprechen wir natürlich Spanisch. Wir schätzen uns gegenseitig. Jeder hat seine Rolle. Ich bin froh, dass er da ist. Was ich bei ihm bewundere, ist die Fähigkeit, sich nach außen unter Kontrolle zu haben, auch wenn es innerlich in ihm brodelt – da hat er mir etwas voraus (lächelt).
Der Name Florian Wirtz ist zum Synonym für die von Ihnen beschriebene Attraktivität von Bayer 04 geworden. Sein Vertrag läuft bis ins Jahr 2027, dennoch wird permanent über einen möglichen Wechsel zu Top-Vereinen spekuliert.
Bei Florian Wirtz gilt für mich dasselbe wie bei Xabi Alonso: Er tut dem Verein gut, aber der Verein tut ihm auch gut. Bei uns kann er sich noch entwickeln, bei uns darf er auch noch Fehler machen, die woanders vielleicht andere Folgen hätten. Er hat eine überragende Qualität, aber für seine persönliche Entwicklung ist es gut, hier zu sein. Beide Seiten werden davon profitieren, wenn die Beziehung noch länger besteht.
Profitieren nicht auch Xabi Alonso und Florian Wirtz voneinander?
Das unterschreibe ich. Florian kann von Xabi viel lernen, weil der Trainer als Spieler alles durchgemacht hat, was Florian möglicherweise noch vor sich hat. Und Xabi hat selbst gesagt, dass er mit Top-Spielern wie Florian Wirtz ein besserer Trainer ist. Je besser die Qualität der einzelnen Spieler, desto erfolgreicher kann ein Trainer arbeiten.
Sie sprachen im Winter davon, dass Bayer 04 Transfererlöse erzielen müsse.
Das gilt weiterhin. Die Höhe ist natürlich auch abhängig davon, ob wir Conference League oder Europa League schaffen oder nicht. (Das steht erst nach dem Pokalfinale Leipzig gegen Frankfurt fest, Anm. d. Red.)
Sitzt der Stachel Rom noch sehr tief? Ein Weiterkommen war möglich und die Umstände des Ausscheidens sorgten für viel Ärger.
Es war für mich sehr frustrierend, und ich empfand es als unfair, dass die Römer für ihre zutiefst destruktive Taktik auch noch belohnt wurden. Aber wir müssen auch selbstkritisch festhalten: Wir haben in zwei Spielen kein Tor gemacht, obwohl wir Chancen hatten und das Ziel zum Greifen nahe war. Deshalb sitzt der Stachel schon noch tief, ja. Aber beide Spiele zusammen genommen waren auch unglaublich belebende und bewegende Ereignisse für diesen Klub. Das vergisst man nicht.
Qualität soll auch abgegeben werden, aber nicht Jung-Star Florian Wirtz
Ist der Markt für Spieler, mit denen Sie Transferüberschüsse erwirtschaften können, groß genug?
Für einen Transfer müssen immer verschiedene Bedingungen erfüllt sein. Wir müssen wollen, der Spieler muss wollen, dann muss die Transfersumme stimmen. Alle müssen sich einigen und zufrieden sein. Auf jeden Fall haben sehr viele Spieler in unserem Kader einen hohen Wert. Und sehr viele Spieler sind begehrt. Wir müssen schauen, dass wir nicht zu viel Qualität abgeben, sondern nur so viel, wie notwendig.
Gehört womöglich auch Florian Wirtz zu den Spielern, mit denen Transfererlöse erwirtschaftet werden müssen?
Nein, er hat einen langfristigen Vertrag. Er ist zufrieden, wir sind zufrieden, es gibt klare Vereinbarungen - da wird nichts passieren. Es geht eher bei Spielern, die bis 2024, oder auch bis 2025 Vertrag haben, darum, Entscheidungen zu treffen.
Der Anspruch des Klubs wurde von Ihnen vor der Saison so formuliert: Wir gehören zu den top Vier der Bundesliga und wollen am liebsten immer Champions League spielen. Ist das nach dieser Saison aufrechtzuerhalten?
Auf jeden Fall. Von den Ressourcen, wenn man sich die Umsätze der Vereine anschaut, gehören wir zu den oberen Vier. Natürlich weit weg von Bayern München, auch entfernt von Borussia Dortmund und Leipzig, aber noch vor den anderen Klubs. Deshalb bleibt der Anspruch bestehen, auch wenn wir es dieses Jahr nicht geschafft haben. Wir werden nächstes Jahr wieder mit dem Ziel Champions League in die Saison gehen. Wir haben Lust auf mehr von diesen internationalen Nächten, wie wir sie zuletzt erlebt haben.
Im Vorstand ihres Mutterkonzerns Bayer gibt es bedeutende Veränderungen. Bill Anderson löst Werner Baumann als Vorstandsvorsitzender ab, der Markt erwartet deutliche Veränderungen in der Unternehmensausrichtung. Spüren Sie den Konzern weiter fest an Ihrer Seite?
Daran gibt es für uns keine Zweifel. Bayer 04 hat einen hohen Wert für den Konzern, ist ein weltweit herausragender Imageträger. Die Verbindung ist für mein Empfinden in den letzten Jahren sogar noch intensiver geworden – was sich nicht zuletzt auf unseren Reisen nach Mexiko und in die USA 2022 deutlich gezeigt hat. Und belegen lässt. Darüber hinaus agieren wir im Geschäft weiterhin sehr unabhängig, die enge Beziehung wird durch den Gesellschafterausschuss mit Werner Wenning an der Spitze dokumentiert und gelebt. Bill Anderson, der neue CEO, hat sich in den vergangenen Wochen bereits drei Mal Spiele unserer Mannschaft angesehen. Und da er direkt vor mir saß, glaube ich sagen zu können: ihm hat gefallen, was er gesehen hat.