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2 Stunden in LeverkusenExpedition in die Wiesdorfer Hölle

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Die Deponie von hinten.

Leverkusen – Nicht besonders begabt im Dartpfeile-Werfen, versuche ich, Wiesdorf zu treffen. Der Pfeil zieht nach links und steckt am Rheinufer neben Deponie und Autobahn 59 . Das Problem: Es ist gerade schwer, dorthin zu kommen, denn die Pontonbrücke an der Rheindorfer Unterstraße ist gesperrt und frühestens 2023 wieder passierbar.

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Stapeltanks im Entsorgungszentrum Bürrig.

Man könnte sich drüber hangeln, der einzig legale Weg führt aber über eine Gas-Leitungstrasse, die um die Deponie herum verläuft. Es wird also mehr eine Expedition durch die Heimat. Auch ausgefahrene Spuren von Verkehr zeugen: Ich rechne nicht damit, hier am Samstag irgendjemanden zu treffen.

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Die Wiesdorfer Hölle.

Die Gas-Trasse verläuft in gebührendem Abstand an der Rückseite des Entsorgungszentrums, hinter dem Stahlgitterzaun stehen die Stapeltanks, in denen immer noch so genanntes Ereigniswasser von der Explosion lagert, das jetzt aber abgelassen werden darf. Die Absetzbecken des Klärwerks Leverkusen werden von Krähen und Möwen bevölkert. Die Geräuschkulisse gleicht der eines kleinen Hafens an der Nordsee. Im Augenblick, in dem ich die Kamera mit langem Objektiv auf sie richte, fliegen sie weg. Wahrscheinlich haben sie gelernt, dass es Gefahr bedeuten kann, wenn ein Mensch so aussieht.

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Leverkusener Kläranlage und Stapeltanks von Currenta.

Ein Habicht kreist über Wiese und Brachland. Ein Falke verbreitet Angst unter den wenigen Tauben, die sich zwischen den Rohren auf den Tanks verstecken. Von hier hinten wird klar, wie riesig die Stapeltanks sind.

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Eine Rohölleitung.

Das wilde Land um Deponie, Tanks und Kläranlage mit dem Müllofen, das ist sicher kein Naturschutzgebiet, aber durch den Werkszaun und die Ruhe vor Menschen und Hunden ist es ein begehrter Lebensraum.

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Am Werkszaun.

Fast vergisst man bei der Fauna und Flora, dass in dem stetig wachsenden Berg hinter dem Zaun Gift und Sondermüll liegen, wäre da nicht eine Tafel an einem Tor mit einer Handynummer, die „Bei ungewöhnlichen Wahrnehmungen / Notfällen“ zu wählen sei. Nebenan steht ein brauner Plastikpfahl: Im Boden liegt eine Rohöl-Leitung.

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Eine Mülltonne von der Ahr steht in Wiesdorf am Rhein.

Es geht unter der Autobahn durch in die Rheinaue, ein heute menschenleeres Naturparadies, denn die Pontonbrücke ist ja gesperrt. Der Weg zur Schiffsbrücke ist passierbar, der Eingang zu den Wupperschiffen wächst aber langsam zu. Vorsichtig und darauf gefasst, Menschen zu treffen, folge ich einer Spur, die durchs vertrocknete Gras zum Rhein führt. Vor kurzem brannte hier ein Lagerfeuer, es ist kalt, aus Indianerfilmen weiß man, wie das zu prüfen ist. Müll liegt hier wenig, dafür steht am Weg eine mit Grill-Müll gefüllte graue Mülltonne. Angeblich sammelt dort ein „Mann mit Fahrrad“ den Müll auf, erfahre ich später.

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Aufkleber an der Mülltonne von der Ahr.

Der „2-Rad-Müllgroßbehälter, 240 L“ hat viel mitmachen müssen. Der Deckel fehlt, Kunststoff ist abgehobelt, rohe Kräfte haben ihn verbeult. Kein Wunder – denn er hat eine Reise hinter sich. Auf einem Aufkleber steht: Abfallwirtschaftsbetrieb des Kreises Ahrweiler. Er verrät sogar die Adresse, wo die Tonne mal gestanden hat: Marienthaler Straße 19, Bad Neuenahr. Eine kurze Recherche ergibt: Es ist ein Haus unmittelbar am Fluss. Hoffentlich steht es noch.Es geht weiter zum eigentlichen Ziel: zur „Wiesdorfer Hölle“, so lautet die uralte Gewannbezeichnung des Landes zwischen Giftmülldeponie, Rhein, alter Wuppermündung und heutiger Autobahnbrücke. Am Namen ahnt man, wie wild und gefährlich das alte Wupperdelta vor Rheinbegradigung und Sondermüllanschüttung gewesen ist.

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Prüfung einer Feuerstelle durch Ralf Krieger.

Dort treffe ich tatsächlich die ersten Menschen. Beate und Bernd Wasserhaas kommen oft hierher. Beate Wasserhaas hat eine besondere Geschichte aus der Wiesdorfer Hölle: Am 27. Juli 2021 vormittags um 9.37 Uhr, als der Müllofen explodiert ist, ging sie gerade dort spazieren. Gute 1000 Meter von der havarierten Anlage entfernt; dazwischen liegen die Autobahn und die Sondermülldeponie.

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„Ich erinnere mich nicht an einen Knall, aber eine Druckwelle, die mich zur Seite geschoben hat. Und dann kam eine Hitzestrahlung, ich dachte, dass ich verbrenne. Ich bin gerannt, hätte nie gedacht, dass ich so laufen kann.“ Sie sagt, sie habe lange gebraucht, bis sie hier wieder spazieren gehen konnte. Sie verfolgt die großen Themen genau: Brücke, Tunnel, Grundwasser, die Explosion. „Die machen doch was sie wollen. Ich lebe nicht mehr gerne hier in Leverkusen.“

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Beate und Bernd Wasserhaas.

Weiter südlich in Richtung Autobahnbrücke bietet sich ein seltsames Bild: Ein geländegängiger kleiner Pickup-Wagen steht am Rheinufer. Oder besser: Er steht im Rheinufer. Die Räder haben sich tief eingegraben.

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Am Rhein festgefahrene Jäger.

Zwei Männer sitzen darin und sie sind aus gutem Grund genauso fotoscheu wie die Vögel vorhin im Klärwerk, sobald das Objektiv auf sie gerichtet wird. Deshalb haben wir sie unkenntlich verpixelt. Sie seien Jagdpächter und würden gleich abgeschleppt, sagen sie mit sorgenvollen Gesichtern. Bald kommt mir auf der trockenen Gasleitungstrasse ein Trecker entgegen. Er zieht eine Staubwolke hinter sich her.