Ellen Lorenz von „Leverkusen Kultur“ und das Ensemble des Jungen Theaters Leverkusen führen auf Zeitreise durch die Kolonie II Anna.
Wiesdorf in den 1920ernSechs Schauspielerinnen erwecken eine Doris zum Leben
Eine Gruppe von ca. 30 Personen steht vor dem Eingang des Erholungshauses und schaut erwartungsvoll zum Treppenaufgang. Da erscheint eine junge Frau in einem schicken, rotschwarzen, enganliegenden Kleid, das wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Ein Hauch der 20-iger Jahre umgibt plötzlich die Wartenden, als die Frau beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist Doris, die Hauptfigur des Romans „Das Kunstseidene Mädchen“, von Irmgard Keun.
Keun war für etwa anderthalb Jahre bei Bayer als Bürokraft tätig und verarbeitete ihre Erfahrungen aus dem Büro zu einem Roman – ein wertvolles Zeitzeugnis über die Lebenssituation junger Frauen in den 20iger Jahren hier in Leverkusen.
Doris erzählt aus ihrem Leben
Sechs junge Schauspielerinnen des Jungen Theaters Leverkusen (Sofia Friedmann, Hannah Braun, Bente Obrikat, Kira Jockers und Hanna Nagy) erweckten Doris während des Spaziergangs, der die Gruppe zu geschichtsträchtigen Orten der Kolonie führte, zum Leben. Charmant, keck und mit viel Freude erzählten sie aus ihrem Leben in den goldenen 20igern. Unterstützt wurden sie von ihrem Kollegen Oliver Krezdom, der unter anderem ein Gedicht von Tucholski vortrug. Im Wechsel mit den kurzen Auftritten der Doris informierte Ellen Lorentz vom Verein „Leverkusen Kultur“ über geschichtlich interessante Fakten der jeweiligen Stationen.
Alle Menschen hatten Zugang zu kulturellen Veranstaltungen, beherrschten jedoch die allgemeinen Gepflogenheiten noch nicht. Ein Lernprozess setzte ein, über den in Köln gespöttelt wurde. Lorentz auch die Idee zu diesem Veranstaltungsformat und erarbeitete es mit Petra Clemens vom Jungen Theater Leverkusen. Der Erfolg gibt beiden recht, denn der Theater-Rundgang durch Wiesdorf fand nun schon zum vierten Mal statt. Vom Erholungshaus ging es zum Vater-Kind-Brunen.
Vater-Kind-Brunnen erinnert an traumatische Zeit nach dem Ersten Weltkrieg
Der Brunnen in der Kolonie erinnert an einen schweren Aspekt der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Viele der jungen Väter, die in den Krieg gezogen waren, kamen versehrt an Leib und Seele zurück. Der Alkohol wurde zum alleinigen Tröster. Der Brunnen sollte deshalb die Väter an ihre Familienpflichten erinnern. Das spielt auch im „Kunstseidenen Mädchen“ eine Rolle. Romanheldin Doris erlebt die Zerrissenheit des Vaters, der einen Großteil ihres Lohns, 70 Mark von 120, in die Wirtschaft trug.
Die Schauspielerinnen ließen die Teilnehmer des Rundgangs an Doris' Leben teilhaben, an ihrer Beziehung zum Doktoranden Hubert zum Beispiel. Als der seine Promotion beendete, endete auch ihre Beziehung, denn als Ehefrau kam nur eine mit Geld in Frage.
Zwar besserte sich die gesellschaftliche Situation junger Frauen in den 1920er Jahren in mancherlei Hinsicht und daran hatte auch Bayer seinen Anteil. Das Unternehmen trieb die Ausbildung junger Frauen voran und gründete Schulen zu diesem Zweck. Immerhin die Aussicht auf fairere Bezahlung wuchs auf diese Weise. Und Bayer produzierte auch Kondome. Diese wiederum ermöglichten Frauen ein sexuell selbstbestimmteres Leben zu führen.
Dann der Rausschmiss: Mitten in der Kolonie saß sie auf einer Bank und aß ein Leberwurstbrot. Sie hatte gerade ihren Bürojob bei einem Anwalt verloren.
Das Theater ruft
Fehler in ihren Briefen und der Versuch ihres Arbeitgebers, eine Affäre mit ihr zu beginnen, führte letztendlich zur Kündigung. Doris versucht ihr Glück im Theater zu finden. Vor dem efeuberankten Gebäude der evangelischen Kindertagesstätte und des Familienzentrums, erzählt sie von ihren Versuchen, beim Theater Fuß zu fassen. Um eine Chance zu bekommen, greift sie zu einem unfairen Mittel, schließt ihre Konkurrentin in der Toilette ein und eroberte sich so einen Satz im Theaterstück.
In der Fußgängerzone, gegenüber dem alten Kino der Kolonie, berichtete Doris vom Besuch einer Kabarettvorstellung, einer Kunstform, die gerade die Bühnen des Landes zu erobern begannen. Die jüdischen Darsteller wurden dort gefeiert, aber im Alltag begann bereits die Ablehnung. Über die Station evangelische Kirche ging es zur Musikschule, die Abschlussstation der Führung. Hier befand sich damals eine Volksschule, zunächst für Jungen und schließlich, durch einen Eingang getrennt, auch für Mädchen. Während der Weimarer Republik entstanden hier aber auch die erste Ausbildungsklassen für Stenografie und die Bürokräfte.
Wer sich für Wiesdorfs Geschichte interessiert, für den ist die Führung sehr zu empfehlen. Weitere Termine sind im Internet zu finden.
www.leverkusen-kult-tour.de
www.jungestheater.net