Ukrainische und italienische Fans kamen von weit her gereist nach Leverkusen und zeigten in der Bay-Arena echte Fanqualitäten.
EM-Qualifikationsspiel in LeverkusenEin historischer, emotionaler und sehr lauter Abend
Grob betrachtet findet in der Bay-Arena ja alle zwei Wochen ein Fußballspiel statt. Spielt die Werkself im Europacup, kommen unter der Woche sogar noch einige Partien hinzu. Ergo: Es brummt regelmäßig an der Bismarckstraße. Doch was sich an diesem Montagabend des 20. November 2023 rund ums Stadion abspielt, das ist weit mehr als ein Brummen. Das hat nichts mehr mit dem irgendwie automatisierten und routinierten Besuch eines Fußballspiels zu tun, zu dem vor allem die immer Gleichen, im besten Falle eine Dauerkarte für Bayer 04 Besitzenden, kommen. Nein: An diesem Abend ist Bayer 04 vollkommen raus. Die Bundesliga weit weg. Und alles ist anders.
Busse aus Polen und der Ukraine
Die Ukraine spielt im letzten Qualifikationsspiel zur EM 2024 gegen Italien. Und hat sich – da im eigenen, vom Krieg erschütterten Land an Sport nicht zu denken ist – als Gastgeber dieses Fernab-der-Heimat-Heimspiels in Leverkusen einquartiert. Und auf einmal kommen die Fans nicht wie an normalen Bundesligaspieltagen aus der Stadt, sondern aus allen Teilen des Landes und Europas. Unter der Stelze stehen Busse mit ukrainischen und polnischen Kennzeichen.
Oleg ist mit seiner Familie aus Prag angereist, bleibt zwei Nächte und spricht von „einer wunderbaren Gelegenheit, unser Nationalteam einmal live zu sehen“, die er, seine Frau und seine beiden Kinder sich unmöglich entgehen lassen könnten. Das Sextett aus Oksana, Maryna, Vlad, Uliana, Daniel und Oleksandr wiederum ist nach Putins Überfall auf ihr Heimatland in Bad Kreuznach gelandet. Und heute hervorragend gelaunt zusammengequetscht im Auto hergekommen. „Es ist so toll, hier auf einen Schlag so viele Landsleute zu treffen“, sagt Oksana. Das werde eine bleibende Erinnerung.
Leonid, der vor eineinhalb Jahren acht Tage lang zu Fuß, im Auto und per Bahn über Russland, Litauen und Polen nach Deutschland floh und nun im Saarland sehnsüchtig auf das Ende des Krieges wartet, trägt stolz ein Shirt in den Farben der Ukraine, auf dem der Name seiner Heimatstadt Kherson steht. Er nennt das, was sich hier und heute abspielt, einen „Traum“, der wahr werde.
Fliegende Händler rund ums Stadion
Und Vitali, Anna und Sohn Volodymyr sind aus Warschau ins Rheinland gekommen. Eine Karte für das ausverkaufte Spiel, für das viele Menschen per Zettel oder Pappschild noch Tickets suchen – haben sie nicht. Aber sie genießen es laut Vitali einfach, die Atmosphäre vorm Stadion aufzusaugen. Zudem sind sie drei von vielen fliegenden Händlern, die hier an der Arena Fan-Artikel und Ukraine-Andenken verkaufen: vom Ukraine-Italien-Spieltagsschal über blau-gelbe Anstecker und Armbänder bis hin zu Bild-Collagen, die Trümmer in den zerstörten Städten der Heimat zeigen. Apropos fliegende Händler: Auf die hat das Ordnungsamt an einem Wusel-Tag wie diesem einen durchaus gestrengen Blick. Die Mitarbeitenden fragen nach Verkaufsgenehmigungen – und fordern nicht wenige auf, ihre Sachen bitteschön zusammenzupacken und zu gehen.
Sich dabei gegen die Geräuschkulisse durchzusetzen, die schon drei Stunden vor dem Anpfiff eine gewaltige aus Gesängen beider an den Stadiontoren wartenden Fanlager ist, ist nicht so leicht. Denn neben den Fans der Ukraine sind ja auch die italienischen Tifosi ziemlich heiß auf dieses Spiel – sicherlich aus anderen und tatsächlich rein sportlichen Gründen. Aber nicht minder leise. Und schon gar nicht minder reisefreudig: Banner und Shirts weisen einige von ihnen als aus Brindisi und Neapel Angereiste aus. Und auch die Ultras der „Drughi Saarland“ sind mit einer Gruppe da – sie sind ein deutscher Ableger der gleichnamigen, recht berüchtigten Fangruppe von Juventus Turin.
Pietro aus der Nachbarschaft
Wobei: Da ist noch Pietro. Pietro aus der Nachbarschaft. Er kommt aus Schlebusch und hat sich zur Feier des Tages ordentlich in Schale geschmissen: Sein Gesicht ist vom Haaransatz bis unters Kinn und vom linken bis zum rechten Ohr dickt und fett in den Nationalfarben Italiens geschminkt. Und Pietro freut sich, sein Team nach sagenhaften 33 Jahren endlich einmal wieder live zu erleben. Und das auch noch vor der Haustüre. „Ich war während der WM 1990 in Neapel beim Halbfinale gegen Argentinien vor Ort“, sagt er. Somit hat Pietro zwar immerhin noch den legendären Maradona spielen und die Squadra Azzura aus dem Turnier im eigenen Land schießen gesehen. Danach aber war nur noch Fernsehen angesagt. Bis heute eben – wenn das kein Grund zum Feiern ist.
Und gefeiert wird dann auch im Stadion. Das Spiel endet zwar 0:0. Italien ist somit direkt für die EM qualifiziert, die Ukraine muss noch in die Play-Offs. Aber das ist fast nebensächlich. Inklusive der Nachspielzeit geht es nämlich 95 Minuten lang nicht nur mitunter vogelwild den Rasen rauf und runter. Nein: Es herrscht auch eine Atmosphäre der Leidenschaft und Begeisterung, die hierzulande ehrlicherweise nicht allzu häufig zu erleben ist. Schon gar nicht, wenn das zuletzt eher unerfolgreiche und unnahbare DFB-Team spielt.
Stakkatogesänge und viel Verve
In der Bay-Arena schaukeln sich die Fans mit ihren Stakkatogesängen „U-kra-i-na!“ und „I-tal-ia!“ gegenseitig hoch. Die Hymnen beider Länder vor dem Anpfiff werden mit einer Verve mitgesungen – und mitgeschrien – die erschüttert. Und zwar den Arena-Beton wie die Fußballseele. Natürlich: Wer im Leben schonmal ein großes Fußballspiel in Italien oder einem Land Osteuropas gesehen hat, der weiß zwar, dass die Fans dort zu genau solchen Dingen fähig sind und jeden Gedanken an Operettengekicke, Schnittchen-Sport und wohlwollendes Applaudieren atomisieren. Indes: Alle anderen dürften an diesem Abend Momente erleben, die bleiben und die zumindest ansatzweise in die Sporthistorie Leverkusens eingehen werden.
Mal ganz abgesehen davon, dass dort unten auf dem Rasen neben einer italienischen Weltklasse-Auswahl, die phasenweise auch genau so spielt, ein Team der Ukraine steht, dessen Spieler sichtbar ihr Herz auf dem Platz lassen – während die nach genau solchen Momenten der bitter nötigen Ablenkung und des verdienten Glücks darbenden Fans ihre Herzen im Gegenzug maximal lautstark runterwerfen zu den Kickern in Gelb. Kein Zweifel: In den kommenden Tagen dürften viele Menschen von einem Abend in Leverkusen erzählen. In ganz Europa.