Die Bayer AG hat einen Erinnerungsort für die Geschichte der Zwangsarbeitenden in Leverkusen im Zweiten Weltkrieg geschaffen.
Kunstwerk in Leverkusen„Auffällig, dass etwas fehlt“ – Bayer setzt Zeichen zu Zwangsarbeit
Am heutigen Montag eröffnet Bayer vor der Konzernzentrale einen vom finnischen Künstler Jussi Ängeslevä konzipierten Erinnerungsort, der die Geschichte der Zwangsarbeitenden im Konzern während des Zweiten Weltkrieges aufgreift. Das ist ein Akt, der von vielen Menschen schon lange gefordert wurde. Thomas Helfrich, Chef der Bayer-Kultur, stellte den Kontakt zu Ängeslevä her. Matthias Berninger ist Leiter des Bereichs „Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit“ des Chemieriesen. Beide sprachen exklusiv mit dem „Leverkusener Anzeiger“ über dieses historisch wichtige Signal des Weltkonzerns.
Herr Helfrich, Herr Berninger, Bayer hat heute ein Kunstwerk vorgestellt, das die Rolle des Konzerns im Dritten Reich als Betrieb, der Ausbeutung und Diskriminierung durch Zwangsarbeit betrieb, aufgreift. Nehmen Sie uns mit in die Zeit, als diese von vielen Menschen schon lange geforderte, öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit begann.
Matthias Berninger: Mich hat die Geschichte von Bayer seit jeher beschäftigt. Es ist die Geschichte eines Unternehmens, das 160 Jahre alt ist. Es wurde gegründet, als der US-Präsident noch Abraham Lincoln hieß – das muss man sich immer vergegenwärtigen. Und die erste Begegnung mit dem Thema Zwangsarbeit kam dadurch zustande, dass ich auch für die Stiftungen zuständig bin, bei denen die Geschichte natürlich eine Rolle spielt. Bis zum Jahr 2000 gab es beispielsweise die Fritz-ter-Meer-Stiftung für soziale Zwecke.
Fritz ter Meer war unter anderem verantwortlich für den Aufbau des KZ Buna-Monowitz bei Auschwitz, in dem Zwangsarbeitende untergebracht waren. Er wurde zwar als Kriegsverbrecher angeklagt, war später aber Aufsichtsratsvorsitzender der Bayer AG.
Berninger: Deshalb ist die Geschichte dieser Stiftung sehr stark mit der Vergangenheit des Unternehmens und mit Zwangsarbeit verbunden, ja. Und in Gesprächen mit Thomas Helfrich darüber ist mir sehr schnell klar geworden, dass wir zu diesem Thema einen ähnlichen Bezug haben. Also haben wir uns an die Arbeit gemacht und darauf geachtet, das Thema sehr systematisch auch im Konzern zu diskutieren.
Thomas Helfrich: Das Thema hat für uns eine ganz andere Relevanz bekommen, weil wir sehen, dass sich Geschichte durchaus wiederholt: Wir beobachten ja verschiedene Mechanismen in der Gesellschaft, die immer wieder kommen. Eben auch in den vergangenen Jahren. Wir haben bei den Recherchen in den Archiven immer wieder Berichte in den Unterlagen gelesen, die auch vor zwei Wochen geschrieben worden sein könnten. Das brachte uns dazu, uns wirklich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und Antworten zu finden. Sprich: uns zu erinnern. Dieses Kunstwerk ist ja vor allem ein Erinnerungsort. Es ist ein Raum für Reflexion, in dem ich mich an etwas Vergangenes erinnere, darüber reflektiere – und daraus meine Schlüsse für die Zukunft ziehe. Der Mensch vergisst ja sehr gerne. Vor allem, weil Vergangenes nicht immer positiv sein muss. Aber wir wollen eben vermeiden, dass wir Vergangenes vergessen. Wir wollen uns erinnern und zeigen, dass wir uns dessen bewusst sind.
Der Schuld?
Helfrich: Es geht hierbei nicht um die Schuldfrage, sondern um die Anerkennung dessen, was passiert ist. Um eine Übernahme der Verantwortung. Und gleichzeitig wollen wir nach vorne schauen, um daraus Lehren zu ziehen und uns zu überlegen, was wir in Zukunft verhindern können. Und ein solcher Ort, wie wir ihn jetzt hier haben, ist dafür immer ein Anker.
Gab es einen bestimmen Moment, der den Ausschlag gab, nach Jahrzehnten der, viele würden sagen, eher halbherzigen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit tätig zu werden?
Berninger: Wissen Sie: Wenn man hier rund um die Konzernzentrale spazieren geht – und da ich häufig in Leverkusen zu Gast bin, ist das so ein bisschen meine Spazierstrecke – dann ist ja ein großer Teil der Geschichte von Bayer überall greifbar: das Grab von Carl Duisberg und seiner Frau. Das Tee-Zeremonie-Haus. Die Bunker der Flugabwehr. Das Mahnmal für die Opfer des Ersten Weltkrieges. Ich bin hier herumgegangen, habe die Helden meines Chemiestudiums als Büsten verewigt gesehen. Ich wusste stets: Das hier ist das Silicon Valley. Hier hat Innovation stattgefunden, die die Welt veränderte. Aber: Es war immer auffällig, dass etwas fehlt. Und das fand ich verstörend. Es reicht nicht, dass man nur diese Betonbüsten sieht. Was hier fehlte, war eine Erinnerung an Menschen, die unfreiwillig aus allen Teilen Europas – und zum Teil auch aus Deutschland – hierhergekommen sind und hier als Zwangsarbeitende gearbeitet haben. Also haben wir uns gedacht: Für diese Menschen brauchen wir hier einen Ort. Einen Ort, der an das Schicksal der vermutlich 16.000 Zwangsarbeitenden gemahnt.
Aber warum wurde der Konzern erst jetzt, nach all dieser Zeit, so richtig aktiv?
Helfrich: Wir haben, wie gesagt, zuletzt beobachtet, dass Themen wie Antisemitismus, Vorurteile gegenüber Fremden, aber natürlich auch das Handeln von Regierungen, autokratischen Systemen, nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft existieren, sondern immer stärker in die Mitte wandern. Also ist jetzt ein guter Zeitpunkt, so etwas anzugehen. Zumal wir als Unternehmen grundsätzlich verpflichtet sind, unseren moralischen Kompass stets neu auszurichten.
Ich wiederholde die Frage trotzdem noch einmal und betone: Weshalb ist Bayer nicht früher darauf gekommen?
Helfrich: Ich glaube, das ist eine müßige Frage. Wir haben im Laufe der vergangenen 75 Jahre gelernt, dass sich die junge Republik sehr schwer getan hat mit der Aufarbeitung der NS-Zeit. Wir haben in den 80ern eine vorsichtige Annäherung erlebt. Aber vor allem ist eine große Zäsur die Einigung zwischen den USA und der damaligen rot-grünen Regierung zur Entschädigung der Zwangsarbeitenden im Jahr 2000. Und im Anschluss daran haben wir, so glaube ich, das nicht weiterverfolgt – weil wir das in der Gesellschaft für uns tatsächlich bis zu einem gewissen Punkt abgeschlossen hatten. Wir sehen aber jetzt eben genau, dass dieses Thema nie abgeschlossen sein kann.
Einen besseren Zeitpunkt als jetzt hätte es also nicht gegeben?
Helfrich: Ich glaube, jeder Zeitpunkt ist immer der richtige, wenn man sich dazu entscheidet, so etwas zu machen. Es ist eben kein einfaches Thema. Es braucht immer den einen Moment, an dem sich Menschen zusammenfinden, die das dann auch wirklich in die Hand nehmen. Und diesbezüglich bin ich einfach sehr dankbar, dass wir – auch mit der Unterstützung des Vorstandes – diesen einen Moment gefunden haben, an dem wir das Thema für uns besetzen konnten.
War der Konzern womöglich zu lange zu naiv und sich der Relevanz des Themas nicht bewusst?
Helfrich: Ich bin überzeugt, dass die handelnden Personen zu ihrer Zeit fest daran geglaubt haben, dass sie das absolut Richtige tun. Und das würde ich nicht als Naivität bezeichnen. Ich glaube eher, so etwas ist dem Zeitgeist geschuldet. Wissen Sie: Wir als Gesellschaft sind uns dessen ja mitunter heute noch nicht bewusst. Sätze wie „Müssen wir uns da jetzt wirklich noch mal mit beschäftigen?“ oder „Da ist doch schon alles zu gesagt“ sind ja Sätze, die wir oft hören. Sie sind zwar menschlich verständlich, helfen aber überhaupt nicht. Wir alle sind eben unheimlich gut darin, schöne Dinge zu zeigen. Und tun uns sehr schwer damit, auch Dinge zu zeigen, die ein wunder Punkt sind. Es ist ja so: Ich kann mich für Erfolge feiern lassen. Ich muss aber auch da Stellung beziehen, wo ich schwierige Momente gehabt habe. Gleichzeitig aber haben wir als Gesellschaft heutzutage auch eine andere Haltung als vor 20 Jahren. Wir sehen diese antisemitischen Tendenzen, diese rassistischen Tendenzen. Und das lässt uns zusammenwachsen und anders miteinander umgehen. Und dazu gehört natürlich auch die Beleuchtung solcher Themen wie der Zwangsarbeit. Und dann stellen wir wiederum rückblickend auch fest, dass wir diesbezüglich nicht genug gemacht haben – und das auch gar nicht wieder gut machen können. Dennoch sind wir als Gesamtgesellschaft gefordert. Keiner kann sich da herausnehmen.
Inwiefern spielte womöglich der öffentliche Druck von außen auf den Konzern eine Rolle, ein Zeichen wie mit diesem Kunstwerk zu setzen?
Helfrich: Das ist uns wichtig: Dieses Thema sind wir nicht aufgrund von äußerem Druck angegangen. Es war eine freie Entscheidung. Und ein sehr intensiver Prozess mit dem gesamten Vorstand. Es gibt ganz wenige Themen, die so oft diskutiert worden sind und bei denen wir über die Art und Weise so sehr gerungen haben.
Was entgegen Sie denen, die jetzt womöglich mit dem Argument „Das ist doch eine reine PR-Maßnahme“ um die Ecke kommen?
Berninger: Wissen Sie: Wir reden ja immer von Diversität und Inklusion. Diversity and Inclusion, wie es so schön im Beraterdeutsch heißt. Und so etwas ist dann tatsächlich ganz schnell ein Unternehmensstrategie-Gerede. Aber was einen Zwangsarbeitenden wie etwa Hans Finkelstein angeht: Er hat ja das Gegenteil von Diversity und Inclusion erlebt. Da ging es um Arisierung. Um eine klare Kastenbildung, eine klare Ausgrenzung, die schlimme Folgen hatte. Und ich glaube, für ein Unternehmen, dass bei dem Thema Diversität und Inklusion noch viel zu tun hat, ist es wichtig, nicht bürokratisch darüber zu reden. Gerade in so einem Fall. Da muss man die Frage der Verantwortung stellen: Was bedeutet das denn eigentlich in der Welt von heute? Und wie nehme ich meine Verantwortung wahr? Ja: Mit dem Unterschreiben der Schecks bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“…
Mit der die Bundesregierung und die USA im Jahr 2000 die Entschädigung von Zwangsarbeitenden im Zweiten Weltkrieg beschlossen…
Berninger: …Ja, damit ist das sicherlich ein Stück weit so gewesen, dass man bei uns, bei Bayer gesagt hat: „Jetzt haben wir bei dieser Stiftung mitgemacht – und das ist es dann auch. Bis jetzt war alles schwierig. Aber jetzt: Okay, Haken dran!“
Wie schwer ist es nun, den Spagat zwischen Öffentlichkeitswirksamkeit auf der einen und „Das liegt uns wirklich auf dem Herzen und ist etwas, für das wir uns nicht feiern lassen wollen“ auf der anderen Seite hinzubekommen?
Helfrich: Sicher: Wir könnten jetzt auch eine globale Kommunikationsinitiative starten, mit vielen Bildern – und dann drücken wir auf unseren Presseverteiler, feiern die Einweihung, zu der wir ganz viele Journalisten und Journalistinnen und andere Gäste einladen. Dann machen wir einen großen Bahnhof, haben vielleicht noch ein Cateringzelt. Und dann klopfen wir uns hinterher auf die Schulter und sagen: Das haben wir doch toll gemacht! Zudem besteht durchaus die Notwendigkeit, das zu erklären – aber eben ohne, dass wir daraus ein Event machen. Wir beschäftigen uns damit, weil es für uns, die Firma und die Mitarbeitenden in der Firma eine Relevanz hat – und weniger, um damit nach außen etwas zu demonstrieren.