Interview"Ich habe keine Angst vor meinem Tod"

Seit 2005 ist Dirk Wassenberg Chef-Arzt im Sankt-Remigius-Krankenhaus in Opladen. Mehrere hundert Operationen führt er mit seinem Ärzte-Team jährlich durch.
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Leverkusen – Doktor Wassenberg, an was erinnern Sie sich besser: Ihre erste Operation oder Ihren ersten Kuss?
DIRK WASSENBERG: An meine erste Operation kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Ist das kein einschneidendes Erlebnis?
Dr. Dirk Wassenberg ist 49 Jahre alt und wurde in Solingen geboren. Er ist seit 21 Jahren Chirurg, seit 2005 Chefarzt der Abteilung für Viszeral- und Thoraxchirurgie am Sankt-Remigius-Krankenhaus in Opladen. Er lebt auch in Opladen. Vor seiner Anstellung in Leverkusen arbeitete er unter anderem in Krankenhäusern in Heidelberg und Hamburg. Pro Jahr führt er mehrere hundert Operationen durch oder assistiert dabei. (sbs)
WASSENBERG: Jetzt weiß ich es wieder. Die erste Operation, das war ein Blinddarm. Man fängt als angehender Chirurg ja erst einmal ganz klein an: Abszesse spalten, Platzwunden nähen. Dann steigert man sich zu Blinddärmen, Leistenbrüchen und Schilddrüsen. Und dann erst geht es zu den großen Operationen.
Was war das für ein Gefühl, zum ersten Mal einen lebenden Menschen aufzuschneiden?
WASSENBERG: Während der Operation ist das Handwerk, da nimmt man die Emotionalität zurück. Ich war auch noch nie nervös vor einer Operation. Aber Respekt hatte ich immer davor. Und hinterher hängt man dann schon gefühlsmäßig dran: Selbst wenn ich im Urlaub bin, frage ich mich zwischendurch, wie es den Patienten geht, die ich operiert habe.
Wie kam es dazu, dass Sie Chirurg geworden sind?
WASSENBERG: Ich wollte eigentlich immer Chirurg werden, seitdem ich 15 Jahre alt bin. Für mich stand das einfach fest, obwohl ich gar nicht familiär vorbelastet bin. Erklären kann ich das nicht.
Manche Profi-Musiker lassen ihre Hände versichern. Chirurgen auch?
WASSENBERG: Nein. Ich habe noch von keinem Chirurgen gehört, der das getan hat.
Wie häufig führen Sie im Krankenhaus Lungenkrebs-Operationen durch?
WASSENBERG: Das sind circa 200 Lungenkrebs-Operationen pro Jahr.
Nehmen die Lungenkrebs-Fälle in den letzten Jahren eher ab oder zu?
WASSENBERG: Die nehmen zu. Und die Patienten werden auch jünger. Früher waren die zwischen 60 und 70. Jetzt habe ich auch 40-Jährige auf dem OP-Tisch. Das liegt daran, dass heute viele Menschen sehr früh anfangen zu rauchen. Mein jüngster Lungenkrebspatient war 27 Jahre alt.
Ist denn jeder Lungenkrebs-Patient operabel?
WASSENBERG: Nur bei 30 Prozent der Lungenkrebs-Patienten ist eine Operation überhaupt sinnvoll, weil die Krankheit oft zu spät entdeckt wird. Das Problem ist, dass viel zu wenig präventiv gemacht wird. Gegen Aids sehe ich große Kampagnen im Fernsehen, wobei die Zahl der Erkrankungen sehr übersichtlich ist im Vergleich zu Lungenkrebs, Herzinfarkten und Schlaganfällen, die durch das Rauchen entstehen. Dass da so wenig getan wird, liegt wohl auch daran, dass der Staat durch die Zigarettensteuer Milliarden verdient.
In vielen Ländern gibt es mittlerweile unappetitliche Bilder, die auf Zigarettenpackungen abgedruckt werden. Befürworten Sie das?
WASSENBERG: Auf jeden Fall. Leider glaube ich kaum, dass das eine abschreckende Wirkung hat. Höchstens bei Kindern.
Operieren Sie auch Babys oder Kleinkinder?
WASSENBERG: Babys nicht, dafür gibt es gute Kinderchirurgen in Köln. Kleinkinder schon. Ich habe zum Beispiel eine Anderthalbjährige an der Lunge operiert. Da ist alles viel zarter und kleiner. Und es ist auch ein anderes Gefühl beim Operieren als bei einem 80-Jährigen, die Verantwortung ist noch höher. Wenn ich früher Notarzt-Dienste gefahren bin und der Fahrer gehört hat, dass ein Kind in Not ist, ist er auch noch mal 50 Stundenkilometer schneller gefahren als sonst.
Was war die längste Operation, die Sie jemals durchgeführt haben?
WASSENBERG: Die ging neun Stunden lang. Einer Patientin musste ein großer Tumor entfernt werden, der in die Lunge, ins Brustbein und ins Zwerchfell eingewachsen war. Das musste alles entfernt und anschließend ersetzt werden - Zwerchfell und Herzbeutel. Da weiß man vorher auch nicht, ob das gut ausgeht, und darüber muss man mit dem Patienten auch sprechen. Der Patient legt dann sein Leben in die Hände des Chirurgen, das ist schon eine große Verantwortung. Zum Glück verlief die Operation gut.
Wie schalten Sie ab nach der Arbeit?
WASSENBERG: Ich spiele Golf, das macht den Kopf frei. Und ich lese viel. Natürlich bin ich nach einem langen Tag aber auch einfach müde.
Können Sie auch mit einer Erkältung operieren oder müssen Sie gesundheitlich auf sich aufpassen wie ein Opernsänger?
WASSENBERG: Durch den Mundschutz, den wir im Operationssaal tragen, ist ein leichter Schnupfen kein Problem. Bei einer schweren Erkältung ist ja auch die Konzentrationsfähigkeit beeinflusst, das ist dann schon etwas anderes.
Sind Chirurgen ein eigener Menschenschlag?
WASSENBERG: Ich denke schon. Chirurgen müssen spontaner, risikobereiter und selbstbewusster, einfach gradliniger sein als Ärzte anderer Fachrichtungen. Denn wir müssen ja ad hoc Entscheidungen treffen, bei Komplikationen während einer Operation zum Beispiel.
Minimalinvasives Operieren, um Narben zu vermeiden, wird immer populärer. Wie stehen Sie dazu?
WASSENBERG: Wir machen das hier auch sehr viel. Bestimmt 60 Prozent der Eingriffe werden bei uns heute minimalinvasiv operiert. Es hat nicht nur ästhetische Vorteile für den Patienten, sondern es ist auch gut, wenn wir nicht zu viel Haut und Muskulatur durchschneiden müssen, weil die Patienten dann schneller wieder auf den Beinen sind. Allerdings wird das minimalinvasive Operieren mittlerweile auch übertrieben. Wenn man durch die Scheide geht, um einen Blinddarm rauszuholen, nur um einen minimalen Hautschnitt zu umgehen, halte ich das für bedenkenswert.
Haben die Patienten mittlerweile die Erwartungshaltung, dass es komplett narbenfrei geht?
WASSENBERG: Nein. Den meisten Patienten kommt es drauf an, dass vernünftig operiert wird. Und wir versuchen natürlich auch so zu nähen, dass die Narbe fein wird.
Es gibt immer mehr übergewichtige Menschen. Ein Problem für Chirurgen?
WASSENBERG: Es macht auf jeden Fall die Operation schwieriger. Nicht nur, weil man sich durch das Fett schneiden muss, sondern auch, weil diese Patienten durch andere Krankheiten wie zum Beispiel Blutzucker oder Bluthochdruck ein erhöhtes Komplikationsrisiko haben.
Wann ist Ihr Beruf der schönste der Welt?
WASSENBERG: Dankbare Patienten geben mir ein gutes Gefühl.
Und wann ist es der schlimmste Beruf der Welt?
WASSENBERG: Wenn man Menschen nicht mehr operativ helfen kann.
Wie gehen Sie damit um?
WASSENBERG: Das nehme ich mit nach Hause. Ich versuche zwar, das zu verdrängen, aber das gehört einfach dazu. Und wenn es einem Patienten schlecht geht nach einer Operation, dann frage ich mich, was ich hätte besser machen können, was ich ihm noch Gutes tun kann. Das finde ich auch sehr wichtig. Wer zu abgebrüht ist und sich nicht mehr permanent selbst reflektiert, der ist kein guter Chirurg.
Klingt nicht gerade nach einem entspannten Berufsleben.
WASSENBERG: Nein, das ist ein anstrengender Beruf. Nicht nur, was die Verantwortung angeht, sondern auch physisch. Und es gibt immer weniger Medizinstudenten, die in diesen Bereich gehen wollen. Aber die, die sich dafür entscheiden, möchten dann meist nie wieder etwas anderes machen. Ich gucke bei meinen Assistenzärzten auch weniger auf Top-Noten, sondern achte mehr darauf, dass das Herz wirklich für die Chirurgie schlägt. Nur dann wird man ein guter Chirurg.
Hat ein Chirurg mehr oder weniger Angst vor dem eigenen Tod?
WASSENBERG: Ich weiß ja, was die Medizin leisten kann. Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Das Gespräch führte Sarah Brasack