Leverkusen – „Seid ihr alle bereit?“, fragt Markus Schulze-Schrage in die Runde. Der Trainer gibt das Kommando: „Dann geht“s los!“ Der aufgebaute Parcours im Physio-Centrum Am Gesundheitspark hat es in sich, neben Seilchenspringen und Hula-Hoop gilt es auch, auf Luftkissen aus Gummi in die Knie zu gehen und auf bunten Gymnastikbällen Balance und Körperspannung zu halten. Einige Teilnehmerinnen keuchen. „Ihr schafft das!“, ruft Physiotherapeutin Mara Etien in die Runde und versucht, die Mädchen weiter zu motivieren. Die achtjährige Lara strengt sich noch einmal an, dann ist Pause. „Gar nicht so einfach“, stellt sie nach dem Zirkeltraining fest.
Lara ist ein aufgewecktes Mädchen. Ihre widerspenstigen, braunen Haare hat sie zu einem lockeren Zopf gebunden, sie trägt eine dunkle Sporthose und Turnschuhe. Lara ist gut gelaunt, sie lacht viel und gerne. Und sie hat Spaß daran, mit den anderen Mädchen im Sportraum auf Matten und beim Fangspiel herumzualbern. Manchmal ist Lara aber gar nicht zum Lachen zumute, manchmal ist sie sogar richtig traurig. Denn manchmal wird Lara gehänselt, von den Älteren, den Viertklässlern an ihrer Schule.
Isolation und Mobbing
Der Grund dafür: Ihr Übergewicht. Mit ihren acht Jahren und einer Körpergröße von 135 Zentimetern hat Lara einen Body-Mass-Index (BMI) von 23. Normal wäre in ihrem Fall ein Wert um 20,5. Dabei hat Lara schon ein paar Kilogramm abgenommen, seit sie an einem speziellen Angebot für übergewichtige Kinder und Jugendliche am Klinikum Leverkusen teilnimmt.
Unter dem Motto „Fit und gesund statt kugelrund“ setzt das interdisziplinäre Kugelblitz-Programm auf die Kombination von vier Faktoren: Sport, Ernährung, Medizin und Beratung. Psychologen, Sportlehrer, Ernährungsberater und Kinderärzte arbeiten Hand in Hand, um sowohl die medizinische, als auch die psychologische Betreuung zu gewährleisten. Soziale Isolation und Mobbing als Folgen von Übergewicht sind kein seltenes Phänomen. „Übergewichtige Kinder werden häufig von Gleichaltrigen ausgegrenzt“, sagt Dr. Daniela Stößel. Die Kinderärztin leitet das Adipositas-Team am Klinikum Leverkusen und behandelt übergewichtige Kinder und Jugendliche. Laras Geschichte steht beispielhaft für die vieler Betroffener.
Ab einem BMI von 30 Kilogramm/Quadratmeter wird bei Erwachsenen von Adipositas gesprochen. Bei Kindern und Jugendlichen ist der BMI erst in Relation zu geschlechts- und altersabhängigen Wachstumskurven, sogenannten BMI-Perzentilen, aussagekräftig.
Betroffene leiden häufig unter psychischen Problemen und haben ein erhöhtes Risiko, an Diabetes oder Bluthochdruck zu erkranken.
Bei einer Veranstaltung im Physio-Centrum informieren die Kinderklinik und das Zentrum für Metabolische Adipositas-Chirurgie am Klinikum Leverkusen am heutigen Samstag von 14 bis 17 über Folgen und Behandlungsmöglichkeiten von Übergewicht und Adipositas. (cmi)
Und ihre Zahl steigt weiter, auch in Leverkusen kämpfen immer mehr Kinder und Jugendliche mit Übergewicht und Adipositas. Das zumindest belegen die aktuellsten Zahlen der Stadt Leverkusen: Laut des Sozialberichts 2012 waren im Jahr 2011 beispielsweise 13,7 Prozent der Einschulkinder zu dick, etwas mehr als fünf Prozent sogar krankhaft fettleibig – in beiden Fällen sind die Werte gestiegen. Gefördert werden Übergewicht und Adipositas vor allem durch häufiges Sitzen, Essen und zu wenig Bewegung. Neben der genetischen Veranlagung messen Experten der Lebensweise entscheidend Bedeutung zu. „Die heutige Gesellschaft hat ganz klar ein Lifestyle-Problem“, sagt Daniela Stößel. Zu wenig Bewegung, falsche Ernährung – die Hauptgründe für die wachsende Rate liegen damit auf der Hand.
In Leverkusen soll Kindern und Jugendlichen nun das Kugelblitz-Programm helfen. Die achtjährige Lara nimmt seit September an der ersten Auflage teil. In zwei getrennten Gruppen kommen Jungen und Mädchen zwischen acht und 16 Jahren ein Jahr lang jede Woche zusammen, zum Sportunterricht, zum Verhaltenstraining, zur Ernährungsberatung. Dabei lernen sie nicht nur, mit Mobbing umzugehen. Sondern vor allem auch, auf ihren Körper zu achten und gesund zu essen. „Die Sachen, die am besten schmecken, haben die meisten Kalorien“, weiß Lara mittlerweile.
Um Zucker- und Fettfallen künftig zu vermeiden, setzt das „Kugelblitz“-Programm vor allem bei der Ernährungsberatung auf die parallele Schulung von Kindern und Jugendlichen einerseits und ihren Eltern andererseits. Übergewicht sei nämlich häufig auch ein Familienproblem, erklärt Kinderärztin Daniela Stößel. Für die Therapie-Teilnehmer bedeutet das: In den Familien müssen sich alle umstellen. Und Schluss mit bequemem Fast Food und schweren spätabendlichen Mahlzeiten.
Spaß am Sport
Das musste auch Lerna Yelegen einsehen. „Unser Schwerpunkt war immer das Abendessen“, gesteht die 38-Jährige. Mittlerweile versuche die ganze Familie, gesünder und vor allem zur späten Stunde leichter zu essen. Selber und vor allem frisch kochen spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Mühe lohnt sich – seit ihre Tochter am Kugelblitz-Programm teilnehme, sei sie ausgeglichener. „Sie ist viel positiver drauf. Und auch selbstbewusster.“ Ob tanzen, turnen oder Seilchen hüpfen, Lara hat den Spaß am Sport entdeckt. Und sie lacht.