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ARD-Journalist Martin Schmidt„Ich habe geweint. Wegen Fußball, wegen dem Bayer“

Lesezeit 4 Minuten
Ulf Kirsten mit dem Schüler Martin Schmidt.

Ulf Kirsten mit dem Schüler Martin Schmidt.

ARD-Journalist Martin Schmidt erinnert sich an seine Kindheit und den Fußball in Leverkusen.

Wegen Fußball weint man nicht, das hat mein Vater mir früh erklärt. Einfach im Stadion sitzenbleiben ging also nicht. Um mich herum hielten sie sich längst ihre schwarz-roten Schals vor die Augen. In der Bay-Arena waren die Bilder gleich mit denen, die aus Unterhaching auf der großen Leinwand flimmerten: weinender Calmund, weinender Ballack. Tränen überall.

Wir haben uns zu dritt ins Auto gesetzt und sind zum Flughafen Köln/Bonn gefahren – wollten die Vize-Mannschaft und wohl irgendwie auch uns selbst wieder aufbauen. Der Eigentorschütze Michael Ballack schlich sich durch den Hinterausgang in den Bus. Trainer Christoph Daum dagegen stellte sich auf dem Parkplatz uns Fans – es waren nicht sonderlich viele. Ich wollte von Daum wissen, warum seine glühenden Kohlen, seine Glasscherben – seine so viel gepriesenen Motivationstricks – in einem solchen Spiel nicht geholfen haben. Er schien auch keine Antwort darauf zu haben.

Ich wusste an diesem Abend im Mai 2000, es würde so weitergehen wie bisher, und dieser Witz würde mich weiter begleiten, wohl ein Leben lang. Nicht nur einmal zog jemand vor meinen Augen die durchsichtige Plastikfolie von einer Zigarettenpackung ab, um sie für seine Pointe umgekehrt aufzustellen. „Was ist das? Der Trophäenschrank von Bayer 04.“

Leverkusen: Schwer, Lokalpatriotismus zu erklären

DFB-Pokal, Uefa-Cup hin oder her, es musste irgendwann die Meisterschale sein, um solchen Provokationen ein Ende zu setzen. Um endlich das Fan-Selbstbewusstsein zu erlangen, nicht immer seinen biographischen Bezug zur Stadt fast entschuldigend hinzufügen zu müssen, um zu erklären, wie es zur schwarz-roten Fußballliebe kommen konnte.

Überhaupt, Leverkusen. So glücklich ich mit meiner Heimat bin, so schwer ist es noch heute, Freunden diesen Lokalpatriotismus zu erklären. Es muss merkwürdig wirken, wenn die gute Anbindung zur Kölner Domplatte eines der Hauptargumente dafür sein soll. Vorzeigbares gibt es wenig. Für mich bleibt es das Highlight einer Fahrt durch die Stadt, am Kump Halt zu machen, nahe der B51, dem höchsten Punkt Leverkusens mit fantastischem Blick – eher ins Umland. Dorthin, wo es weniger nach Industrie aussieht.

Natürlich geht es dann auch am Denkmal an der Stadtgrenze zu Köln vorbei, am liegenden Löwen aus Stein, von dem ich schon in der Grundschule gelernt habe, dass er Leverkusen gegen seinen Nachbarn verteidigt. Leider hat der Löwe wohl auch verhindert, dass die Kölner Straßenbahn ordentlich bis ins Stadtgebiet verlängert wurde oder dass irgendwann mal ein ICE in Leverkusen hält. Mit Abstrichen muss man leben.

Der Christoph mag das nicht so gerne, wenn ihr hier spielt.
Dirk Heinen, Ex-Bayer-04-Torwart

Dafür war aber auch sonst alles immer eine Nummer kleiner als bei der Bundesliga-Konkurrenz aus deutschen Großstädten. Mit den Nachbarskindern haben wir uns oft das Rad geschnappt und sind zum Training unserer Fußballhelden gefahren. Einen Ball hatten wir auch dabei. Das Gelände war noch Ende der 1990er-Jahre komplett offen. Spielten die Profis auf der linken Hälfte des Trainingsplatzes, kickten wir auf der rechten einfach ein wenig selbst.

Zumindest so lange, bis Torwart Dirk Heinen zu uns gelaufen kam: „Der Christoph mag das nicht so gerne, wenn ihr hier spielt.“ Wir gehorchten dem Trainer etwas enttäuscht. Die Spieler fingen wir dann später an ihren Autos ab, um mit ihnen Fotos zu machen. Wir hätten dafür vermutlich auch gleich in die Kabinen laufen können – an Sicherheitspersonal kann ich mich nicht erinnern.

Meine Eltern haben beide nicht „beim Bayer“ gearbeitet. Die meiner Schulfreunde dagegen eigentlich alle. Der Weltkonzern, dessentwegen die Stadt überhaupt existiert, ist selbstverständlich allgegenwärtig. Der nächstgelegene Supermarkt meiner Kindheit war ein „Bayerkaufhaus“, das Theaterabo hatte der Deutsch-Leistungskurs im Bayer-Erholungshaus, mein Fitnessstudio – vom TSV Bayer 04. Der Vater meines besten Kindergartenfreunds gehörte zur Konzernführung.

Einmal in der VIP-Loge der Bay-Arena

Ich durfte einmal mit in die VIP-Loge. Wir saßen in der Reihe hinter Rainer Calmund. Einer von uns kleckerte Joghurt auf seine Jacke. Wie wir mit Servietten das Schlimmste zu beheben versuchten, hat er nicht gemerkt. Heute wäre ich froh über solche Kontakte. Für meinen Sitzplatz in der ersten Leverkusener Champions-League-Saison gegen Real Madrid habe ich 1998 als „Kind“ fünf Mark bezahlt. 2024 ist es kaum noch möglich, überhaupt ein Ticket zu ergattern, fast egal, gegen wen.

Auch das Training findet weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, alles weitflächig abgesperrt. Es hat sich etwas verändert in Leverkusen. Und offenbar auch in der Sicht auf den Verein. Statt Witzen bekomme ich Anerkennung. Vor Monaten schon wünschten mir auch bei der Auswärtsfahrt gegnerische Fans die Meisterschaft. Ein merkwürdiges Gefühl.

So ist es dann auch passiert. Nach dem Spiel gegen Bremen, nachdem zum Glück die Tore zum Stadion geöffnet waren, sodass ich auch selbst den Platz noch stürmen konnte. Ich habe geweint. Wegen Fußball, wegen dem Bayer. Mein Vater wird es mir verzeihen.


Zum Autor

Martin Schmidt, Jahrgang 1984, ist Journalist im ARD-Hauptstadtstudio. Er ist in Leverkusen groß geworden und hat seine ersten journalistischen Schritte beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ gemacht. 2001 gehörte er zum Gründungsteam der damaligen Jugendseite „Junge Zeiten“ und schrieb bis 2007 als freier Mitarbeiter für die Leverkusener Lokalredaktion.