AboAbonnieren

„Ein Vorbeben“Nach Missbrauchsstudie fordert Leverkusener Superintendent Änderungen

Lesezeit 6 Minuten
Bernd-Ekkehart Scholten steht vor dem Haus der Kirche, dem Sitz des Kirchenkreises Leverkusen, in Burscheid.

Bernd-Ekkehart Scholten, Superintendent des Kirchenkreises Leverkusen, vor dem Haus der Kirche in Burscheid.

Superintendent Scholten erklärt, was die neu veröffentlichten Missbrauchszahlen der evangelischen Kirche für Leverkusen bedeuten.

Sexualisierte Gewalt hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang bekannt. Das ist das Ergebnis der ersten übergreifenden Studie zu sexualisierter Gewalt und anderer Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und der Diakonie. In dem Bericht des Forschungsverbunds ForuM, der vergangenen Donnerstag veröffentlicht wurde, ist unter anderem die Rede von mindestens 2225 Betroffenen sowie 1259 mutmaßlichen Tätern. Das sei laut Autoren jedoch nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“. Welche Reaktionen und Konsequenzen die Ergebnisse in Leverkusen auslösten, fragten wir Bernd-Ekkehart Scholten, Superintendent des Kirchenkreises.

Herr Scholten, sind Ihnen Fälle sexualisierter Gewalt hier im Kirchenkreis Leverkusen bekannt?

Bernd-Ekkehart Scholten: Darauf mit „Nein“ zu antworten, wäre falsch. Die Frage ist, was ist sexualisierte Gewalt? Wir sprechen da von einem breiten Feld. Wir haben bei uns ein Interventionsteam, das Fälle sexualisierter Gewalt bearbeitet. Dabei geht es nicht notwendigerweise um Hands-on-, sondern auch um Hands-Off-Taten (Anm. d. Red.: Taten mit oder ohne Körperkontakt zwischen Betroffenen und Tätern sowie Täterinnen), beispielsweise sprachliche Übergriffe. Wenn das in diesen Bereich hereinfällt, dann ist die Antwort auf die Frage: Ja.

Da die Definition scheinbar nicht so eindeutig ist: Wie würden Sie sexualisierte Gewalt beschreiben?

Ich merke, dass dies eine Vielfalt ist. Der eine Teil von sexualisierter Gewalt ist das nicht Ernstnehmen der Freiheit und des Wunsches einer Person im Rahmen von körperlicher oder verbaler Nähe. Sie kann mit anzüglichen Bemerkungen und Grabschen beginnen und bis hin zur Ausübung massiver körperlicher Gewalt gehen. Wir sprechen von sexualisierter Gewalt auch dann, wenn Autorität, Macht oder Vertrauen benutzt werden, um eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen.

Jede Zahl ist ein Mensch, jede Zahl ist ein Leben und jede Zahl ist ein Leiden.
Bernd-Ekkehart Scholten, Superintendent des Kirchenkreises Leverkusen

Um konkret auf die Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche einzugehen: Haben Sie Kenntnis über Fälle, die im Kirchenkreis Leverkusen disziplinartechnisch festgehalten wurden und somit eventuell in die Untersuchung eingeflossen sind?

Ich weiß nicht, ob es hier Fälle dieses Ausmaßes gab. Zum einen wurde in der Studie mit anonymisierten Fällen gearbeitet, zum anderen hat die Landeskirche die Akten zur Aufarbeitung geliefert, nicht wir als Kirchenkreis. Die Studie geht außerdem zurück bis ins Jahr 1947. Ich bin zwar seit 28 Jahren im Kirchenkreis, aber erst seit drei Jahren Superintendent.

Wie überrascht waren Sie von den Ergebnissen des Berichts?

Jetzt ist auf dem Tisch, was auf den Tisch gehört. Überrascht hieße aber, dass ich nicht vermutet hätte, dass so etwas möglich wäre. Dass es sexualisierte Gewalt gibt, hat mich nicht überrascht und schockiert mich jedes Mal aufs Neue. Jede Zahl ist ein Mensch, jede Zahl ist ein Leben und jede Zahl ist ein Leiden. Von daher ist da eher dieses innere Zerrissensein darüber, dass Menschen so etwas in Kirche erlebt haben und darüber, dass wir als Kirche das institutionell befördert haben. Es ist ein grundlegender Schrecken bezüglich des Leidens von Menschen.

Strukturen in der evangelischen Kirche: Elementares Umdenken erforderlich

Die Kirche sollte ein Ort des Schutzes, von Geborgenheit und Nächstenliebe sein. Warum, denken Sie, kommt es in dieser Institution zu einer Häufung von Fällen sexualisierter Gewalt?

Aus meiner Sicht haben wir institutionelle Probleme und Strukturen, die das befördert haben. Es gab ein Verstecken hinter der Idee: Bei uns ist alles schön und sicher. Und das war es auch oft, das ist ja der Punkt. Es ist ja nicht so, dass überall sexualisierte Gewalt lauert, aber ich glaube, kritisches Hinterfragen, Hinschauen und Hinhören, sind nicht in angemessener Weise wahrgenommen worden.

Der Betroffenenvertreter Detlev Zander sprach bei der Veröffentlichung der Ergebnisse von einem Beben, das die evangelische Kirche ereilt. Wie spüren Sie dieses Beben?

Ich denke, dass das Beben gerade noch ein Vorbeben ist. Die Forum-Studie ist für mich nicht der Beginn der Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Vorstellung, wir hätten bis letzten Donnerstag noch nichts von sexualisierter Gewalt gehört, ist nicht die Realität. Ich verstehe Herrn Zander so: Das Thema darf nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden, die Dinge müssen auf den Tisch. Das hat Konsequenzen und das hat Gewicht. Denn wenn Sachen mit Energie und Gewicht auf den Tisch geknallt werden, wird da ein Zittern sein. Das Erdbeben braucht jetzt etwas anderes. Es braucht eine Reflexion von 900 Seiten Studie. Und es braucht aktives Handeln. Und das wird dazu führen, dass in vielen Bereichen ein elementares Umdenken erforderlich sein wird, auch bezogen auf Strukturen.

Regionale Aufarbeitungsstudien in Planung

In der Studie bemängeln die Forschenden, dass ihnen wichtige Unterlagen zur Aufarbeitung von den Landeskirchen nicht zur Verfügung gestellt wurden. Haben sie dafür Verständnis?

Es gibt Informationen, die das Landeskirchenamt verschickt hat. Da wird das anders gesehen. Meine Vermutung ist, dass alle Beteiligten sich am Anfang nicht klar genug über die Konsequenzen des Umfangs bewusst gewesen sind. Das kann so nicht bleiben.

Was sind die Konsequenzen, auch hier in Leverkusen?

Es wird regionale Aufarbeitungsstudien geben. Eine Studie wird für den Bereich der evangelischen Landeskirchen im Rheinland, Westfalen und Lippe, gemeinsam mit dem diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe sein. Darin wird es eine Sichtung der Personalakten auf Ebene des Kirchenkreises geben. Zum Schutz und im Ernstnehmen der Betroffenen müssen wir kritisch und ehrlich Strukturen überwinden. Wo haben wir weggeschaut? Wo haben wir Menschen im Stich gelassen? Wo ist versucht worden, eine Institution zu retten, anstatt Betroffene in ihrem Leid ernst zu nehmen? Da bin ich bei den Betroffenenvertretern, dass es da noch beben wird.

Welche Strukturen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gibt es im Kirchenkreis Leverkusen und der evangelischen Kirche im Rheinland bereits jetzt?

Laut Kirchengesetz muss jeder Kirchenkreis, jede Gemeinde und jede andere Einrichtung ein Schutzkonzept haben. Wir haben das aber nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir wollten. Veröffentlicht wurde es 2022, davor haben wir es mit den Kirchen und Einrichtungen erarbeitet.

Ein Schutzkonzept gibt es in Leverkusen seit 2022

Was umfasst das konkret?

Es umfasst die Punkte Prävention, Intervention und Aufarbeitung. Neben dem Schutzkonzept haben wir im Bereich Prävention zwei Mitarbeitende, angestellt für jeweils 30 Stunden pro Woche. Deren Aufgabe ist es, Schulungen durchzuführen. Wer wie zu schulen ist, ist auch im Schutzkonzept festgelegt. Das Ganze hat den elementaren Hintergrund der Bewusstseinsänderung und der Sensibilisierung für Situationen. Wenn trotzdem etwas passiert, gibt es das Interventionsteam, genauso wie zwei Vertrauenspersonen. Wenn Betroffene ein Anliegen haben, können Sie sich an diese Stellen wenden. Deren Job ist es, Lotse oder Lotsin zu sein. Hinhören und – falls gewollt – an die jeweilige Stelle weiterleiten. Auch im Bereich Intervention gibt es klare Handlungsstrukturen, beispielsweise Formulare und wie, wo und was in welcher Form festzuhalten ist. Und es gibt Vertraulichkeit. Ein weiterer Punkt ist die Aufarbeitung und das läuft in Kooperation mit der Landeskirche. Da gibt es auch zwei Stellen, an die man sich wenden kann.

Wie werden die Anlaufstellen wahr- und angenommen?

Nun sind wir bei der Sache mit der Vertraulichkeit. Die steht hier in gewisser Weise der öffentlichen Transparenz gegenüber. Die Flyer sind an alle unsere Einrichtungen verteilt worden, und wir haben das Ganze breit gestreut. Die Anlaufstellen werden angefragt. Dabei ist ein Grundsatz von Beratung, dass die Klienten bestimmen, wie der Weg weiter geht.

Was würden Sie Menschen, die sich nun vielleicht enttäuscht von der Kirche abwenden, mit auf den Weg geben?

Die Schwierigkeit ist, dass jetzt jeder Satz wie ein Herunterspielen wirken kann. Ich kann das Erschrecken, tiefe Erschütterung und auch die Distanz nachvollziehen. Aber es ist nicht so, dass wir erst jetzt gehört haben, was in und durch Kirche geschehen ist. Sondern, dass wir das Leid von Menschen ernst nehmend aktiv sind. Und dem werde ich mich stellen.