Obdachlos in der Corona-KriseHarte Zeiten auf der Straße
- Krisen treffen immer die Schwächsten. Wie ergeht es den Wohnungslosen in Leverkusen derzeit?
Leverkusen – Gibt es Grund zur Panik? Für Robert Behle nicht. Er kommt aus dem Tagestreff der Caritas in Wiesdorf und geht schnurstracks auf den Journalisten zu, der mit ihm sprechen möchte. Will ihm die Hand schütteln. Und zieht sie erst zurück, als er merkt: Kein Kontakt erwünscht. Corona. „Corona?“, sagt er. „Ich habe mehr Angst, dass sich mein kleiner Neffe auf dem Spielplatz an einer gebrauchten Spritze verletzt, als dass ich mich mit Corona infiziere.“ Überhaupt: „Ich komme klar.“
In Ordnung ist gerade nichts
Auf die Frage, wie er das denn schaffe mit diesem unerschütterlichen Optimismus, schaltet sich sein Kumpel Sebastian ein, der links vom Eingang an der Wand lehnt. Er ruft: „Weil wir Obdachlosen immer schon klargekommen sind.“ Es folgt ein raues Lachen, das klingt wie: Alles in Ordnung. Aber in Ordnung ist gerade nichts.
Das weiß ihr Straßenkollege Tate, der nicht lacht, dafür aber sagt: „Ich habe eine Scheißangst vor diesem Virus. Weil ich nicht weiß, wie ich mich davor schützen soll.“ Und das weiß auch Stefanie Strieder. Denn sie hat täglich mit Menschen wie Robert und Sebastian zu tun. Ihr Alltag sind die Obdachlosen der Stadt. „Und für die bricht durch Corona gerade so gut wie alles weg“, sagt die Leiterin des Fachbereichs „Soziale Integration“ bei der Caritas. Das fange an bei der Tafel: „Die wird von Personen betrieben, die selbst zur Risikogruppe in Sachen Virus gehören und jetzt daheimbleiben müssen.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Weil es alte Menschen sind, raus aus dem Berufsleben, und ehrenamtlich tätig. Das ziehe sich dann fort über die Caritas-Suppenküche, die wegen der Infektionsgefahr schließen musste. Die Notschlafstelle im Wiesdorfer Bunker, in der wegen des „Social Distancing“ derzeit weniger Personen übernachten dürfen als sonst.
Erhöhte Gefahr für Leib und Leben
Und es geht bis zur eigenen erhöhten Gefahr für Leib und Leben, wenn es zu einer Infektion kommen sollte, denn: Obdachlose können sich nicht so ohne weiteres mehrfach am Tag die Hände waschen, wenn sie draußen auf der Straße sind. Vor allem aber: Nicht wenige von ihnen leiden unter Vorerkrankungen. „Manche wohl unbewusst, weil sie nicht regelmäßig zum Arzt gehen können“, sagt Stefanie Strieder. Alles in allem also: Es ist nicht nur schwer. Es ist kritisch.
Um die Obdachlosen in dieser Zeit der Krise nicht gänzlich allein zu lassen, ist der Tagestreff der Caritas in der Schulstraße derzeit trotzdem geöffnet. Stefanie Strieder und ihr Team sind vor Ort. Was nicht selbstverständlich und alles anderes als einfach ist, denn: Es musste Mobiliar raus, um Platz für Abstand zu schaffen. Zuerst flog eine Couch raus. Sie sei geradezu eine Einladung zum Draufsetzen mit mehreren anderen gewesen, sagt Stefanie Strieder. Es folgten Stühle. Dann wurden die Tische auseinandergerückt.
Ernst der Lage gelangt langsam ins Bewusstsein
Und doch ist es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, die Situation stets im Blick zu haben: „Irgendwann sitzen dann eben vier Leute zusammen und spielen »Mensch ärgere Dich nicht«.“ Weil der ohnehin wenig strukturierte Alltag eines Obdachlosen durch Corona eben noch unstrukturierter wird. „Wer will es ihnen verdenken?“ Vielen gelangt nur langsam ins Bewusstsein, wie ernst die Lage ist. Dass enges Beineinandersein gerade nicht so gut ist – egal wie sehr man die eigene Clique der Leidensgenossen auch vermissen mag.
Immerhin: „Die Spender mit Desinfektionsmittel an den Türen werden immer häufiger genutzt“, sagt Stefanie Strieder. Und das heißt so viel wie: Es geht irgendwie. Zumal auch diejenigen, denen es besser geht, helfen: Ein Supermarkt schickt zweimal in der Woche Lebensmittel. Die Kirchengemeinden liefern Kuchen.
Den schlimmsten Fall im Hinterkopf
Stefanie Strieder hat trotzdem immer irgendwie den schlimmsten Fall im Hinterkopf, von dem sie hofft, dass er ihrem Hause und den darin betreuten Menschen erspart bleibt: Den Fall nämlich, dass sich jemand hier infiziert und alles endgültig dichtgemacht wird. Ein hoch betagter Obdachloser geht gerade langsam mit einer Krücke über die Straße und auf den Tagestreff zu, in dem Robert schon wieder verschwunden ist. „So jemand“, sagt Stefanie Strieder, „ist ganz besonders auf uns angewiesen.“ Soll heißen: So jemand würde beim „Worst Case“ ganz ohne Hilfe sein.
Unterwegs in der Stadt ist dieser Tage auch Deniz Palabiyikli vom Verein Kältegang. Sie und ihr hauptsächlich aus der eigenen Familie bestehendes Team sind seit rund eineinhalb Jahren beinahe täglich auf Rundgang durch Leverkusen und betreuen Obdachlose. Ein Ehrenamt, das zum Ganztagsjob wurde. Zweimal in der Woche bringen die Kältegang-Helfer selbst gekochtes Essen und selbst gepackte Care-Pakete zu denen, die auf der Straße leben. 60 Portionen.
Hilfsbereitschaft und eine logistische Meisterleistung
Was dahinter steckt ist nicht nur unbedingte Hilfsbereitschaft, sondern auch eine logistische Meisterleistung, denn: Deniz Palabiyikli kontaktiert vorher jeden der Obdachlosen – und verabredet so die jeweiligen Treffpunkte und Treffzeiten. Dann setzt sie sich in ihr Auto und fährt die Stadt rauf und runter. 60 Pakete. Mehr als ein Dutzend Orte, an denen die Obdachlosen alleine oder in Zweiergruppen und getrennt voneinander stehen. „Meine Wohnung“, sagt Deniz Palabiyikli, „sieht furchtbar aus.“ Voll mit gespendeten oder gekauften Lebensmitteln und Pflegeartikeln. „Darunter 52 Rollen Toilettenpapier.“ Sie lacht. Das Lachen klingt nach: Nicht schlimm. Ich weiß ja, für wen ich all die Sachen sammele und packe.
Apropos „Ich weiß“: Normalerweise weiß Deniz Palabiyikli auch ganz genau, wo sich wer „ihrer“ Leute auf der Straße gerade aufhält. Aber durch Corona hat sich auch dies geändert: „Viele Obdachlose haben sich zurückgezogen – unter anderem in Waldstücke in Schlebusch, Alkenrath und Hitdorf.“ Grund dafür sei die Angst vor einer Infektion – nicht jeder ist so betont entspannt wie Robert vom Caritas-Tagestreff. Und über eines ist sich Deniz Palabiyikli im klaren: „Sollten die Regelungen das öffentliche Leben betreffend strenger werden, dann würde es für uns schwer, die Hilfe aufrechtzuerhalten.“ Ein Ritt auf der Rasierklinge stünde an: „Entweder mache ich mich dann strafbar, weil ich womöglich gegen Gesetze verstoße. Oder ich lasse die Obdachlosen im Stich.“ Auch deshalb hält sie engen Kontakt zu einem Anwalt und weiß, was geht und was nicht.
Die Zeiten sind durch Corona eben andere. In jedem Haus. Und vor allem draußen. Auf der Straße.