Leverkusener über Proteste im Iran„Die Leute wollen keine Sitten-Polizei mehr“
- Seit Wochen protestieren Iranerinnen und Iraner gegen ihre Regierung. Tausende Menschen wurden dabei von der sogenannten Sitten-Polizei verletzt und getötet.
- Auslöser der Proteste war der Tod von Mahsa Amini. Die Kurdin wurde am 16. September wegen eines verrutschten Kopftuchs von der Polizei in Gewahrsam genommen und starb wenige Stunden später.
- Der Leiter der iranischen Gemeinde in Leverkusen spricht über die Proteste und wie die Menschen in Deutschland helfen können.
Leverkusen – Mahmoud Taghavi ist Leiter der iranischen Gemeinde Leverkusen. Nach seinem Studium in Deutschland wollte die iranische Regierung seinen Reisepass einziehen. 1987 fasste er in Leverkusen Fuß. Seitdem ist er ehrenamtlich als Integrationshelfer tätig und wurde dafür Ende September von der Stadt geehrt. Im Interview erklärt Taghavi, inwieweit die Proteste auch Deutschland betreffen:
Herr Taghavi, was passiert gerade im Iran?
Mahmoud Taghavi: Es ist ganz klar, dass die Menschen im Iran unzufrieden sind. Wirtschaftlich, politisch und moralisch. Die Unzufriedenheit hat sich in den letzten 43 Jahren, in denen die islamische Republik an der Macht ist, immer weiter entwickelt. Und man hat einen Grund gesucht, das nach außen zu tragen.
Nach Mahsa Aminis Tod wurde erst demonstriert, um Klarheit zu bekommen. Angehörige wollten wissen, was wirklich mit ihr passiert ist. Darauf hat die Sitten-Polizei mit Gewalt reagiert. Der Protest wurde größer. Die Leute wollten keine Sitten-Polizei mehr. Keine so tiefen Einflüsse auf ihr Privatleben. Als darauf auch mit Gewalt reagiert wurde, hieß es: „Wir wollen gar keine islamischen Regeln mehr“. Die nächste Stufe war, dass sie diese Regierung nicht mehr wollten. Und nun ist die allerhöchste Stufe, dass sie sagen: „Nieder mit dem Religionsführer Chamenei“. Und darauf steht im Iran die Todesstrafe.
Mahsa Amini war Kurdin. Hatte das Einfluss auf die Reaktion der Sitten-Polizei?
Es hätte jedem passieren können. Es wird erst geschossen, bevor nach der Identität gefragt wird.
Sitten-Polizei und Moral-Gesetze sind in Deutschland unvorstellbar. Was bedeuten sie für das iranische Volk?
Diese Gesetze sind so nicht im Islam vorhanden, sie wurden von der Regierung interpretiert. Sie beschränken Menschen im tiefsten und intimsten Verhalten. Es geht in alle Schichten des Lebens. Schulbücher werden manipuliert und kulturelle Feste abgeschafft. Und Sie schränken vor allem Frauen ein. Sie müssen immer Kopftuch tragen, dürfen nur dunkle Kleidung tragen und so weiter.
Ist der Protest also ein Protest für Frauenrechte?
Es ist ein Mittel zum Zweck. Unter der Regierung sind Frauen Menschen zweiter Klasse. Zwei Frauen sind so viel wert wie ein Mann. Die Regierung hat diesen komplett falschen Grundgedanken als Wurzel. Wenn man einen Baum an der Wurzel wegnimmt, muss man nicht jedes Jahr Blattläuse bekämpfen. Man bekämpft alle kleineren Probleme auf einmal. Ziel ist die Abschaffung der Regierung. Und das kann die Bewegung von Frauen schaffen.
Proteste gegen die iranische Regierung gibt es immer wieder. Warum sind sie diesmal international so präsent?
Unterdrückung der Frauen ist eine Sache, die nicht nur im Iran, sondern auch in allen anderen Ländern passiert. Menschenrechte und Menschenrechtsverletzung betreffen uns alle. Wenn Menschenrechte nur teilweise bestehen, bestehen sie nicht wirklich. Die Gefühle der Menschen im In- und Ausland sind jetzt verbunden.
Inwiefern betrifft die momentane Lage Menschen mit iranischem Hintergrund in Deutschland?
Wir haben natürlich eine Identität, diese Identität ist die iranische Identität. Wir sind verbunden mit dem Iran, moralisch und kulturell, aber viele auch wirtschaftlich. Wir können nicht einfach die Augen zu machen. Das ist nicht möglich. Wenn wir arbeiten, wollen wir 100% geben, aber das geht nicht. Wir sind körperlich da, aber nicht geistig.
Und deshalb haben wir eine Erwartungshaltung an die deutsche Regierung. Wir fühlen uns heim hier. Wir erwarten, dass die deutsche Regierung unsere Gefühle versteht. Und nicht für wirtschaftliche Zwecke die Augen verschließt. Moral ist in der Politik nichts. Nur die Wirtschaft. Aber die Regierung muss diese Menschenrechtsverletzung wahrnehmen. Wirklich wahrnehmen.
Was kann Deutschland denn tun, um etwas zu bewirken?
Erstens wissen wir, dass es iranische Regierungsangehörige gibt, die jetzt schon Konten in anderen Ländern anlegen, damit sie schnell eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen können, falls im Iran etwas schiefgeht. Deutschland würde wirklich Gutes tun, diese Leute zu identifizieren, die Konten zu sperren und somit Fluchtwege zu sperren.
Zweitens müssen weitere Sanktionen ausgesprochen und durchgeführt werden. Deutschland ist der größte Wirtschaftspartner des Irans. Wenn man sagen würde, dass nichts mehr exportiert und importiert wird, würde sich schnell etwas ändern.
Was tut die Iranische Gemeinde in Leverkusen?
Die Anzahl an Iranern in Leverkusen ist nicht so hoch, dass wir zu eigenständigen Aktionen aufrufen. Vielleicht kommt die Zeit noch. Aber wir haben das Glück, zwischen Köln und Düsseldorf zu leben. Das nutzen wir und protestieren dort mit.
Was können einzelne Personen tun, die helfen wollen?
Sie können auch an Protesten in Deutschland teilnehmen. Zeigen, dass sie für Menschenrechte da sind. Dass sie von der Regierung Handlung erwarten. Moralische Unterstützung hilft viel. Aber alles andere müssen die Iraner selbst machen.