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Leverkusenerin im Erdbebengebiet„Als ob den Menschen die Wurzeln herausgerissen wären“

Lesezeit 4 Minuten
Kerstin Bandsom, Welthungerhilfe, bei der Essensausteilung für Erdbebenopfer in der Südost-Türkei

Kerstin Bandsom, Welthungerhilfe, bei der Essensausteilung für Erdbebenopfer in Islahiye, Südost-Türkei.

Kerstin Bandsom arbeitet für die Welthungerhilfe im türkisch-syrischen Erdbebengebiet. Die Schlebuscherin schildert ihre Eindrücke.

Frau Bandsom, kurz nach ihrer Ankunft in der Südost-Türkei hat es erneut schwere Nachbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion gegeben. Wie haben Sie die Erdstöße erlebt?

Kerstin Bandsom: Vor dem Beben am Montag, 20. Februar, gab es schon drei schwere Nachbeben vorher, alle mit einer Stärke von über 5 auf der Richterskala. Das ist erschreckend. Der Boden schwingt und Sie können selbst überhaupt nichts tun. Wir haben Zimmer relativ weit oben in einem Gebäude und da schwankt es natürlich mehr als im Erdgeschoss. Ich persönlich kann damit aber anders umgehen als die Menschen, die hier leben. Ich weiß: Das ist ein Nachbeben. Aber für viele Leute, die das schwere Erdbeben vom 6. Februar erlebt haben, ist das wie eine Fortsetzung des Schreckens. Sie werden erneut traumatisiert.

Menschen gehen an den Trümmern eingestürzter Häuser in Antakya vorbei.

Menschen gehen an den Trümmern eingestürzter Häuser in Antakya vorbei.

Vieles, was an Gebäuden noch einigermaßen in Ordnung war und stand, ist jetzt auch zusammengestürzt. Eine Kollegin aus unserem Team hier sagte: Man kommt überhaupt nicht zur Ruhe.

Was ist aktuell die Aufgabe des Teams der Welthungerhilfe in der Region?

Wir haben insgesamt 245 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Türkei und auf der nordwestsyrischen Seite der Grenze. Wir versorgen die Menschen mit Zelten, Decken, warmer Kleidung, zelttauglichen Heizöfen und Isoliermatten, aber auch mit Dingen des täglichen Bedarfs wie Kochutensilien und natürlich Hygieneartikel wie Toilettenpapier, Binden, Zahnpasta und -bürsten, Rasierer. Das alles geschieht in engmaschiger Abstimmung mit den türkischen Behörden, damit es dabei gerecht zugeht.

Kerstin Bandsom im Gespräch mit einem Welthungerhilfe-Kollegen

Kerstin Bandsom im Gespräch mit einem Welthungerhilfe-Kollegen im Erdbebengebiet

Geschieht das auch in Nordwest-Syrien?

In Nordwest-Syrien arbeiten wir mit erfahrenen einheimischen Partnerorganisationen zusammen. Diese konnten gemeinsam mit unseren Kolleg*innen bereits wichtige Hilfsgüter nach dem Beben verteilen. Aber die Hilfe muss angesichts des Ausmaßes der Katastrophe massiv ausgeweitet werden. Die Menschen in Nordsyrien leiden sowieso schon große Not wegen des seit mehr als einem Jahrzehnt andauernden Bürgerkrieges. Also: Es kommt Hilfe an und es gibt eine unglaubliche Solidarität. Aber die betroffenen Menschen in Nordwest-Syrien sagen auch: Die internationale Gemeinschaft hat uns vergessen.

Was ist mit den Projekten, die die Welthungerhilfe vor dem Erdbeben ins Leben gerufen und begleitet hat in der Region, um syrische Geflüchtete und die sie unterstützenden türkischen Gemeinden zu unterstützen? Laufen die trotz Erdbeben weiter?

Ich bin hier gerade in Burc, einem Dorf westlich der Großstadt Gaziantep, wo wir unser Regionalbüro haben. In Burc unterstützen wir eine Kooperative von 18 syrischen und türkischen Frauen, die eigentlich Trockenobst herstellen und verkaufen. Kurz vor dem Erdbeben war das Projekt eigentlich so weit, dass es auf eigenen Füßen stand. Nachdem die Erde gebebt hatte, haben die Frauen gesagt: Wir können jetzt nicht einfach so weiter machen. Also kochen sie – jeden Tag 2000 Mahlzeiten im Durchschnitt. Die warmen Mahlzeiten und zusätzlich etwas fürs Frühstück verteilen wir nachmittags an Erdbebenopfer, sodass sie auch am nächsten Morgen etwas zu essen haben.


Zur Person

Kerstin Bandsom ist gebürtige Lützenkirchenerin und in Opladen aufgewachsen. Die 58-Jährige lebt mit ihrer Familie in Schlebusch. In der Türkei ist sie als Mitglied des Nothilfe-Teams der Welthungerhilfe noch bis 27. Februar im Einsatz. Seit dem Jahr 2000 war sie für die Welthungerhilfe in Uganda, in Somaliland, Bangladesch, Mozambik und im Grenzgebiet zur Ukraine in Nothilfe-Einsätzen.


Nebenbei betreiben die Frauen aber in reduziertem Umfang ihr Trockenobstprojekt weiter. Es sind einfach alle von dem Erdbeben betroffen, auch alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine hat mir gesagt, dass sie sich schuldig fühlt. Sie hat überlebt, ihr geht es gut, aber Freunde von ihr sind gestorben. Daraus entsteht in ihr ein Schuldgefühl. Das quält sie.

Sie waren bereits in einer Reihe von Katastrophengebieten für die Welthungerhilfe im Einsatz. Ist das, was Sie in der Türkei sehen, damit vergleichbar?

Nein. Das hier ist anders. 2019 war ich bei der verheerenden Flutkatastrophe in Mosambik. Da war aber die Perspektive, dass das Wasser irgendwann auch wieder weg sein würde. Hier erlebe ich: Die Gewissheit, dass es irgendwann vorbeigeht, fehlt. Wenn eine Stadt dem Erdboden gleichgemacht wird wie hier, verlieren die Menschen ja nicht nur ihre Häuser, sie verlieren ihre Heimat. Es ist, als ob ihnen die Wurzeln herausgerissen wären. Sie verlieren ihren Halt. Die Menschen hier wissen zum Teil, dass ihre toten Kinder unter den Trümmern ihrer Häuser liegen und sie können sie noch nicht einmal begraben.


Integrationsrat sammelt Spenden

Der Integrationsrat der Stadt Leverkusen ruft zu Spenden für die Opfer des Erdbebens in der Türkei und in Syrien auf. Der Integrationsrat bittet die Leverkusenerinnen und Leverkusener, Medikamente, medizinische Artikel, Tabletten zur Trinkwasseraufbereitung, Hygieneartikel, haltbare Lebensmittel (nicht in gläsernen Behältnissen) sowie Batterien und Taschenlampen am 24. und 25. Februar, 14 bis 18 Uhr, zum Haus der Integration, Eingang 3, Manforter Straße 184, zu bringen.