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Zwangsarbeiterinnen in Leverkusen„Das war der Verlust meiner Jugend“

Lesezeit 7 Minuten
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Polnische Zwangsarbeiterinnen 1943, man erkennt sie an dem „P“.

Leverkusen – In vielen Betrieben in Leverkusen wurden im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt – die meisten bei Bayer, der damaligen Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG (I.G. Farben). Das Unternehmen spielte eine wichtige Rolle in der Rüstungsindustrie und wurde als „kriegs- und lebenswichtiger Betrieb“ angesehen und dementsprechend von den Nationalsozialisten begünstigt: Sowohl bei der Zuteilung von Rohstoffen, Baumaterial wie auch – Arbeitskräften, schreibt Valentina Maria Stefanski.

Die Historikerin hat für ihr Werk „Zwangsarbeit in Leverkusen“, das in den 1990er Jahren veröffentlicht wurde, Zwangsarbeitende aus Polen in Interviews befragt: Wie sie nach Leverkusen gekommen sind, wo sie eingesetzt waren, wie sie behandelt wurden.

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Zwei Arbeiterinnen werden am Lager Buschweg kontrolliert.

Bereits im Ersten Weltkrieg wurden auch in Leverkusen Zwangsarbeiter eingesetzt. Als nach Beginn des Zweiten Weltkriegs zunehmend Mitarbeiter in die Armee einberufen wurden, fehlten in den heimischen Werken erneut die Fachkräfte.

1940 werden die ersten Polen von der I.G. Farben beim Arbeitsamt Opladen „angefordert“, schreibt Stefanski. Es folgen Franzosen, Belgier und Niederländer. Später seien auch Menschen aus Kroatien, der Ukraine und Russland „eingestellt“ worden, auch Kriegsgefangene aus Frankreich und Italien mussten in den lokalen Betrieben arbeiten.

Bayer war selbstverständlich nicht das einzige Leverkusener Unternehmen, das auf Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen zurückgriff. Auch die Theodor-Wuppermann GmbH, das Dynamit-Werk Schlebusch, die Bahnmeisterei Küppersteg, Eumuco, Cornel Schmidt, Wester und Werner & Co. beschäftigten Zwangsarbeiter. Stefanski bezieht sich auf Zahlen der Alliierten, die wiederum auf Angaben des Arbeitsamts in Opladen beruhen. Zusätzlich hat sie Zahlen in Akten der Gestapo gefunden: Diesen zufolge beschäftigte das Wuppermann-Stahlwerk in Manfort 330 Zwangsarbeiter und die I.G. Farben brachte allein in ihrem Lager am Buschweg in Flittard 670 Personen unter.

Genaue Zahlen unklar

Wie viele Zwangsarbeitende insgesamt in Leverkusen beschäftigt wurden, bleibt letztendlich unklar, da die Zahlen voneinander abweichen: Gegen Kriegsende (Stand 31. März 1945) seien offiziell 9451 Ausländer und Ausländerinnen polizeilich gemeldet gewesen, schreibt die Historikerin.

Die Angaben der Alliierten sprechen von 6705 Zwangsarbeitenden, die in verschiedenen Lagern untergebracht waren. Hier seien die Zwangsarbeitenden, die private Unterkünfte hatten oder bei Landwirten, in Haushalten oder kleineren Betrieben arbeiteten, aber nicht enthalten, betont Stefanski. Aber auch die Lager, die die Stadt Leverkusen betrieben hatte, sind nicht aufgeführt. „Das tatsächliche Ausmaß der Zwangsarbeit in Leverkusen wird sich nicht mehr feststellen lassen“, resümiert Valentina Maria Stefanski.

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Innenansicht des Lagers Buschweg in Flittard mit polnischen Zwangsarbeiterinnen.

Eva Wolff, die in ihrer Doktorarbeit „Nationalsozialismus in Leverkusen“ von 1988 ebenfalls das Thema Zwangsarbeiter aufgreift, schreibt, dass es im Januar 1945 „kaum ein Industrieunternehmen, eine Firma, einen Handwerksbetrieb oder einen selbstständigen Landwirt“ gegeben habe, „bei dem keine Fremdarbeiter beschäftigt waren“.

Selbst die beiden Stadtverwaltungen in Leverkusen hätten für den Bunkerbau, für Garten-, Kanalbau- und Straßenreinigungsarbeiten Menschen „angefordert“. Im Stadion gab es damals ein Barackenlager für 60 Gefangene, zusätzlich mietete die Stadtverwaltung Räume und Stallgebäude an der Bergischen Landstraße an, ebenfalls für 60 Personen. Allerdings sei die Zuteilung nach Dringlichkeit und Notwendigkeit gegangen, nicht selten musste die Stadt ihre Arbeiter an Firmen ausleihen, schreibt Wolff.

Valentina Maria Stefanski hat vor allem zu den polnischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern recherchiert. Am 20. April 1940 wird der Antrag auf „Genehmigung zur Beschäftigung von ausländischen nichtlandwirtschaftlichen Arbeitskräften“ von der I.G. Farben beim Arbeitsamt Opladen eingereicht und nur wenige Tage später genehmigt. 112 Polen kommen im Juni an.

Stefanski zitiert aus Schreiben, dass nicht so viele wie „bestellt“ eingetroffen und einige Abteilungen bei der Zuteilung nicht berücksichtigt worden seien, was wohl zu Beschwerden geführt habe. Knapp ein Jahr später kamen die ersten Frauen aus Polen in Leverkusen an. „150 polnische Mädchen im Alter von 18 bis 30 Jahren“ mit „besonderen Fingerfertigkeiten“ seien Anfang 1941 vom Leverkusener Werk beantragt worden, es kamen im Mai 21 Frauen und Mädchen.

Zunächst freiwillig angeworben?

Kontrovers diskutiert wird, ob die ersten Arbeiter und Arbeiterinnen nicht freiwillig angeworben wurden. Eva Wolff schreibt, dass die Arbeiter „zunächst freiwillig“ ins Reich kamen, die Arbeitsbedingungen und die Anwerbungsmodalitäten ab 1942 „zunehmend Zwangscharakter“ annahmen.

Historikerin Stefanski bezweifelt hingegen, dass die ersten 112 Polen, die nach Leverkusen ins I.G. Farbenwerk kamen, sich freiwillig gemeldet hatten. „Allein die Tatsache, dass bereits in den ersten Wochenenden drei der Polen geflohen waren, deutet darauf hin, dass von Freiwilligkeit eigentlich nicht die Rede sein kann.“

Eine der ersten Polinnen, die in Leverkusen ankamen, war die 16-jährige Anna. Sie soll in ihrer Heimatstadt eine Aufforderung vom Arbeitsamt erhalten haben, sich zu melden. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sie nach Deutschland zur Arbeit vermittelt werde. „Die Mutter versuchte zu intervenieren, worauf ihr angedroht wurde, dass auch sie nach Deutschland geschickt würde“, schreibt Stefanski. Mit einem Koffer wurden insgesamt 240 Frauen und Mädchen nach Köln gefahren, von dort aus ging es nach Leverkusen weiter.

Teilweise wohnten die Arbeitenden in Privatunterkünften, zum größten Teil aber in den eigens errichteten vier Barackenanlagen: Lager Z-Block, Lager Buschweg, Lager Flittard und Lager Eigenheim. Auch seien damals verschiedene Gastwirtschaften angemietet worden.

Schlechte hygienische Verhältnisse, die Ungewissheit, wie es mit ihnen weitergehen würde, und die Sehnsucht nach der Familie bereiteten den polnischen Fremdarbeitern „die größten psychischen Belastungen“, schreibt Valentina Maria Stefanski.

„Ich habe mich nach diesem Warschau gesehnt, nach dem Kopfsteinpflaster, nach allem, was es dort gab, nach den Pferden, nach all diesen Gerüchen, das war meine Stadt“ zitiert Stefanski Zenon D. in ihren Interviews. Zenon D. musste Säcke schleppen, zehn bis zwölf Stunden am Tag. Aufgestanden wurde früh.

In der Anweisung des Lagerkommandanten des Barackenlagers Flittard heißt es beispielsweise, dass die Arbeitenden werktags um 5.30 Uhr geweckt wurden, sonntags um 7 Uhr. Unter der Woche ging es um 6.30 Uhr zur Arbeitsstätte, um 18 Uhr war Feierabend, mit gerade einmal 40 Minuten Mittagspause.

Drastische Regeln, bis hin zur Todesstrafe

Die Regeln waren streng: Man durfte seinen Aufenthaltsort nicht verlassen, auch die Unterkunft durfte während des von der Polizei angeordneten Ausgehverbots nicht verlassen werden. Die Bahn durfte nur mit besonderer Erlaubnis der Polizei genutzt werden. „Jeder gesellige Verkehr mit der deutschen Bevölkerung, insbesondere der Besuch von Theatern, Kinos, Tanzvergnügen, Gaststätten und Kirchen, gemeinsam mit der deutschen Bevölkerung, ist verboten.“ Wer sich als Pole oder Polin mit einem Deutschen oder einer Deutschen einließ, „wird mit dem Tod bestraft“, zitiert Eva Wolff.

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Nochmal das Lager Buschweg, Fremdarbeiter mussten sogar „Gartenarbeit“ leisten.

Stefanski berichtet von Arbeitern, die sich ins Kino schlichen oder mit geliehener Kleidung nach Köln fuhren, damit sie nicht erkannt wurden. Essen und Kleidung gab es gegen Vorlage entsprechende Lebensmittelmarken bzw. Bezugsscheine, schildert Stefanski. Doch es wurden auch Rationen gekürzt oder verweigert. Wer nicht genügend Leistung erbrachte, musste an den freien Wochen ran, schildert Eva Wolff.

Hela M. erinnert sich: „Das war schrecklich, dass ich in so jungem Alter von den Eltern getrennt wurde. Ich glaube kaum, dass ich es länger durchgehalten hätte. Das war der Verlust meiner Jugend.“ Hela M. kam 1942 nach Leverkusen und arbeitete im Labor, spülte Reagenzgläser und zerkleinerte Eis. Von der hiesigen Bevölkerung wurden die polnischen Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen gemäß der Naziklassifizierung als „Untermenschen“ verachtet. Sie wurden mit einem „P“ auf ihrer Kleidung gekennzeichnet, schreibt Valentina Maria Stefanski.

Die Fabriknummer als Werksausweis diente auch als Ausweis zur Identifizierung, schreibt Stefanski. Damit seien die Polen und Polinnen auf ihre Arbeitskraft „reduziert“ worden, das sei mit einer „Entpersonalisierung“ einhergegangen.

Zugewiesene Arbeitsplatz und die Arbeitsbedingungen mussten die Fremdarbeiter akzeptieren, wie die „Launen von Vorgesetzten und Aufsehern und Aufseherinnen“. Die Historikerin schildert einen Fall einer ärztlichen Untersuchung: Man habe den Frauen das Stethoskop aufgelegt, über eine Frau sagte der diensthabende Arzt zu einem Kollegen, sie sei „eine Sünde wert“, das sogar auf Polnisch, „so viel hatte er gelernt“.

Unzureichende Gesundheitsversorgung

Im Leverkusener Werk der I.G. Farben oblagen die Untersuchungen der Zwangsarbeiter dem zuständigen Werksarzt, Privatärzte durften die Fremdarbeiter nicht aufsuchen, schreibt Eva Wolff. „Da nur der Werksarzt eine Arbeitsunfähigkeit testieren durfte, legt bereits die hohe Zahl der betreuten Personen die Vermutung nahe, dass allenfalls schwere Symptome als behandlungsbedürftig anerkannt wurden.“

Doch immerhin habe es die theoretische Möglichkeit gegeben, sich untersuchen zu lassen, so Wolff: In anderen Firmen wie der Dynamit-Nobel seien die Arbeiter teils mit Gewalt daran gehindert worden, sich untersuchen zu lassen. Einige Zwangsarbeiter waren aber bereits bei ihrer Ankunft in Leverkusen dermaßen krank und unterernährt, dass sie nicht arbeiten konnten. Eva Wolff zitiert einen Fall von einer Ankunft von russischen Familien 1943: „Dieser Transport kam in offenen Waggons hier an. Bekleidung und Schuhwerk der Russen waren in einem verheerenden Zustand.“ Von den 136 Kindern seien 27 innerhalb von zwei Monaten gestorben. Todesursache sei meist „vollkommene Entkräftung oder Rachitis" gewesen.