MedikamententestsPharmafirmen missbrauchten Kinder und Jugendliche in Heimen
Köln – Michael B. kann sich noch genau an die tägliche Medikamentenausgabe erinnern: „Morgens eine Pille, abends eine Pille.“ Über Jahre wurde der heute 55-jährige Kölner in einem Heim für schwerbehinderte Kinder und Jugendliche medikamentös ruhiggestellt. Die Mönchengladbacher Einrichtung ist längst geschlossen, die Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend im Heim quälen Michael B. bis heute. Ob die Medikamente, die er zwischen seinem elften und dem 18. Lebensjahr bekam, zugelassen waren oder womöglich an ihm und anderen getestet wurden, kann er nicht sagen. „Ich weiß nur, dass mir Prügel angedroht wurden, wenn ich sie nicht nehmen wollte.“
Tests in den Archiven recherchiert und belegt
Sylvia Wagner arbeitet als Apothekerin in Krefeld. Seit zwei Jahren beschäftigt sie sich im Rahmen einer Doktorarbeit mit dem Thema „Arzneimittelstudien an Heimkindern“. Jetzt hat sie erste Ergebnisse veröffentlicht.
Im Januar 2017 soll bundesweit die „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ ihre Arbeit aufnehmen. Sie soll Menschen beraten und entschädigen, die als Kinder und Jugendliche in Psychiatrien und Einrichtungen der Behindertenhilfe zu Schaden gekommen sind.
Auszuschließen ist das nicht. Bis 1975 sind in der damaligen Bundesrepublik, teilweise mit der Zustimmung staatlicher Behörden und Institutionen, Medikamententests an Heimkindern durchgeführt worden – auch in NRW. Das belegt eine Untersuchung der Krefelder Apothekerin Sylvia Wagner. Die 52-Jährige durchforstete in den vergangenen zwei Jahren unzählige Fachzeitschriften, suchte im Bundesarchiv und den Archiven pharmazeutischer Firmen nach Unterlagen und befragte ehemalige Heimkinder nach ihren Erfahrungen. „Viele vermuteten zwar, dass sie damals zu pharmazeutischen Tests missbraucht worden sind. Beweisen konnten sie es nicht“, sagt sie. Indes: Die Indizien sprechen für einen Missbrauch. „Die Kinder und Jugendlichen wurden für ein paar Wochen in psychiatrische Einrichtungen gebracht und bekamen Medikamente, obwohl sie nicht krank waren. Anschließend wurde ihr Blut oder ihre Rückenmarkflüssigkeit untersucht.“ Als Pharmazeutin habe sie interessiert, ob an dem Verdacht der Betroffenen etwas dran sei.
Jetzt hat die Doktorandin der Universität Düsseldorf erste Ergebnisse ihrer Untersuchung veröffentlicht. Und die haben nicht nur sie selber erschreckt. Bundesweit seien Tausende Kinder zwischen 1945 und 1975 von Pharmakonzernen für Arzneimitteltests missbraucht worden. Das belegten rund 50 Studien, die sie bislang gefunden habe. „Ich gehe jedoch davon aus, dass es deutlich mehr waren und mich dieses Thema noch sehr lange beschäftigen wird.“
Test eines Antipsychotikums in „Düsselthaler Anstalten“
In NRW ist die Wissenschaftlerin in zwei Städten fündig geworden. 1954 wurde in einem namentlich nicht genannten Düsseldorfer Waisenhauses an 50 unter Zweijährigen die Wirkung eines Pockenimpfstoff getestet. Auftraggeber des gruseligen Experiments: das Bundesgesundheitsamt „mit materieller Unterstützung durch das Ministerium für Arbeit, Soziales und Wiederaufbau des Landes NRW“.
Auch an der „Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie Viersen-Süchteln“ wurden nach Wagners Erkenntnissen Kinder für Medikamentenstudien missbraucht. Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1972 mit dem Titel „Dipiperon bei kindlichen Verhaltensstörungen“ belege die Durchführung einer entsprechenden Studie mit dem Neuroleptikum, schreibt die Pharmazeutin.
30 verhaltensauffälligen Kindern zwischen zwölf und 13 Jahren sei das Mittel als Saft verabreicht worden. „Es ist nicht vermerkt, ob die Kinder darüber unterrichtet waren, dass an ihnen ein Medikament getestet wurde. Auch ist kein Hinweis zu finden auf eine Unterrichtung oder Einwilligung der gesetzlichen Vertreter oder Landesjugendamtes.“
In der Einrichtung selber und auch im Archiv des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), dem Träger der Viersener Klinik, ist darüber nichts bekannt. Beim LVR zeigt man sich bestürzt über die Ergebnisse von Wagners Nachforschungen. Politik und Verwaltung des LVR seien sich einig, dass den ehemaligen Heimkindern Gerechtigkeit widerfahren müsse, heißt es in einer ersten Stellungnahme.
Das Thema ist jedoch nicht neu. 2008 gab der Landschaftsverband eine erste eigene Heimkinderstudie in Auftrag, in der die Situation in den rheinischen Jugendhilfeeinrichtung zwischen 1945 bis in die 1970 Jahre untersucht wurde. In diesem Jahr soll ein zweites Forschungsprojekt zum Thema abgeschlossen werden. Bereits in der ersten Studie fanden sich Hinweise auf Medikamentenstudien an Heimkindern in zumindest einer LVR-Einrichtung: Mitte der 1960er Jahre wurde in den „Düsselthaler Anstalten“ in Düsseldorf mit Billigung des Landesjugendamts die Wirkung des Antipsychotikums Truxal auf Kinder getestet. Man versprach sich davon eine Verbesserung des „Lern- und Kontrollverhaltens der aktivierten, verhaltensschwierigen“ Probanden.