Frau Professorin Bundschuh, im Erzbistum Köln ist Warten auf das Missbrauchsgutachten angesagt. Am 18. März soll es publiziert werden. Ihre Studie zum Missbrauch im erzbischöflichen Collegium Josephinum liegt seit 2017 vor. Was ist daraus geworden?Claudia Bundschuh: Die Studie wurde veröffentlicht, und die Bistumsleitung ließ verlauten, sie wolle versuchen, die darin formulierten Wünsche der Betroffenen umzusetzen. Von konkreten Schritten ist mir als Projektleiterin allerdings nichts bekannt.
Welche Wünsche waren das?
Transparenz, öffentliche Benennung von Verantwortlichen, Prävention – das sind die wiederkehrenden Wünsche der Betroffenen. Und ich sage wiederkehrend, weil sich die Wünsche der Betroffenen unseres Projekts nicht von den Wünschen anderer Betroffener unterscheiden.
Aber es gibt doch ein verstärktes Bemühen um Prävention, und es gibt das Versprechen von Kardinal Woelki, mit dem Gutachten Transparenz herzustellen und Namen von Verantwortlichen zu nennen.
Das ist richtig. Man wird auch sagen können, dass die Beteiligung von Betroffenen – ein Kernbestandteil unserer Studie – sich in dem von Kardinal Woelki berufenen Beirat zunächst fortgesetzt hat. Im Umgang mit dem Betroffenenbeirat des Erzbistums wird man inzwischen aber von einem Scheitern sprechen müssen.
Zur Person
Claudia Bundschuh, geboren 1967, ist Professorin für Pädagogik des Kindes- und Jugendalters an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Die Spezialistin für Fragen der Pädosexualität war und ist an Projekten zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Raum der katholischen Kirche beteiligt.
Für das Erzbistum Köln erstellte sie von 2015 bis 2017 eine Studie zu sexualisierter Gewalt am ehemaligen erzbischöflichen Collegium Josephinum, einem Jungeninternat in Bad Münstereifel. (jf)
Wir haben in unserem Projekt alle Erkenntnisse gegenüber den Betroffenen in unserem Lenkungsausschuss offengelegt und das weitere Vorgehen auf der Grundlage aller Informationen beschlossen. Diese Transparenz gab es gegenüber den Mitgliedern des Betroffenenbeirats – mindestens bezogen auf die Inhalte des unveröffentlichten Münchner Gutachtens – offensichtlich nicht.
Was ergibt sich aus Ihrer Studie zu strukturellen Ursachen von Missbrauch oder zu einem Versagen der Kirche als Institution?
Wir haben im Collegium Josephinum über Jahrzehnte eine mangelhafte Qualifikation der Fachkräfte zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen sowie das Fehlen jeglicher Kontrolle der erzieherischen Praxis durch den Träger des Collegiums festgestellt. Die Jungen, die im Konvikt Opfer von sexualisierter Gewalt wurden, hatten keine Chance, irgendwo Gehör zu finden. Es gab keinerlei Beschwerdemöglichkeit oder gar Hilfestellung zur Beendigung der Gewalt.
Das hatte sicher auch mit zeittypischen Bedingungen zu tun, die nicht nur für die Binnenwelt des Konvikts galten. Priester waren als Autoritätspersonen buchstäblich sakrosankt. Es war schlichtweg unmöglich, Kritik an einem Priester zu formulieren oder ihn gar eines so ungeheuerlichen Vergehens wie des sexuellen Missbrauchs zu bezichtigen. „Ein Priester tut so etwas nicht.“
Das war auch in den Familien der Konviktschüler die herrschende Norm. Deshalb wurden die Jungen selbst von ihren Eltern als Lügner bezichtigt und bestraft, wenn sie sich ihnen anvertrauten. Der Klerikalismus als Kultivierung eines völlig überhöhten Priesterbilds garantierte gesamtgesellschaftlich den Schutz der Täter.
Wie sollte man für solch ein System jemanden persönlich verantwortlich machen?
Wenn wir von einem Systemversagen sprechen, muss zunächst klar sein, dass es eben nicht um die eine verantwortliche Person geht. Jeder einzelne im System gestaltet die Kommunikation, die Prozesse mit. Auf der persönlichen Ebene heißt das: Es gibt eine Verantwortungsgemeinschaft. Jeder hat für sich die Wahl, sich für die Opfer einzusetzen oder aber die Kultur des Wegschauens weiter zu stabilisieren, zu vertuschen, die Täter zu schützen und die Opfer mit ihrem Leid allein zu lassen.
Deswegen reicht es nicht aus, jetzt konkret nur auf Kardinal Meisner oder seinen Nachfolger zu zeigen. Natürlich spielt es eine Rolle, auf welche Art ein Mann wie Meisner Macht ausgeübt hat.
Was hat seine Mitarbeiter gehindert, zu widersprechen, aufzubegehren, sich auf die Seite der Opfer zu stellen und in der letzten Konsequenz ihr Wissen auch gegen den Willen von Meisner offen zu legen?
Berechtigte Fragen.
Meisners Machtausübung spricht seine Mitarbeiter jedoch nicht von der Verantwortung frei. Die Mitarbeiter der früheren und jetzigen Erzbistumsleitung, die von den Taten wussten, tragen ihren Teil der Verantwortung, weil sie das alles nicht getan, sondern im System mitgemacht und den Täterschutz unterstützt oder mindestens geduldet haben. Abhängig von ihrer Funktion lässt sich die Verantwortung jedoch sicherlich unterschiedlich gewichten.
Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, Meisners früherer Generalvikar, hat erklärt, alle Missbrauchsfälle seien in der Personalkonferenz leitender Geistlicher gemeinsam besprochen und entschieden worden.
Damit hat er schon mal deutlich gemacht: Es war eben nicht nur einer, der im Alleingang entschieden hat. Und immerhin hat er damit gesagt, „ich war dabei“. Das habe ich bisher weder von Heßes Vorgängern Dominik Schwaderlapp und Norbert Feldhoff gehört noch vom früheren Personalchef Ansgar Puff und anderen Beteiligten. Stattdessen hüllen sich alle in Schweigen. Hoffen sie darauf, mit dem Gutachten möge ihre Unterlassung im Opferschutz und ihre Mitverantwortung nicht offenkundig werden? Sie alle hätten die „gemeinsamen Entscheidungen“ ja nicht mittragen oder ausführen müssen.
Was folgt für Sie nun daraus?
Es muss Schluss sein mit der Verantwortungsabwehr und Verantwortungsverschiebung, bei der einer auf den anderen zeigt und sagt: „Ich war’s nicht, der war’s!“ Sorry, das ist Kindergarten. Selbst die Kleinen wissen meist schon, dass es richtig und wichtig ist, bei Konflikten in der Gruppe auch auf den eigenen Anteil zu schauen und die Schuld nicht nur bei den anderen zu suchen. Es wäre zu wünschen, dass die Großen diesem Beispiel folgen.
Wird das in Köln gelingen?
Wenn sich nach dem 18. März einer nach dem anderen aus dem Erzbistum hinstellen und sagen würde, „ja, ich habe mitgespielt und ich übernehme die Verantwortung“ – das wäre ein Durchbruch. Für die Opfer macht es das übrigens nicht leichter.
Es wäre sicher eher zu ertragen, es gäbe tatsächlich bloß den einen Schuldigen. Stattdessen müssen sie damit fertig werden, dass im Grunde genommen viele, vielleicht alle dabei waren, die im Erzbistum etwas zu sagen hatten. Aber wenn es so war, kommt es erst recht darauf an, dass sie alle die notwendigen Konsequenzen ziehen und nicht nur einer. Und dass dann neue Leute einen echten Neuanfang machen.