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Schäfer in Angst„Der Wolf ist zurück, um zu bleiben“

Lesezeit 11 Minuten

Ein Wolf in einem Tierpark. (Symbolbild)

  1. Vor 20 Jahren kamen die ersten Wölfe wieder nach Deutschland, in NRW gibt es inzwischen vier Wolfsgebiete.
  2. Die Schäfer im Land fürchten, dass sie die Leidtragenden sind.
  3. Eine Bestandsaufnahme im Rheinland.

Köln – Der erste Wolf in Nordrhein-Westfalen war ein Rüde und hieß Reinhard. Am 23. November 2009 wurden seine DNA-Spuren bei Höxter bei einem gerissenen Schaf nachgewiesen. Eigentlich, das wusste man, lebte er auf der anderen Seite der Landesgrenze in Hessen im dortigen Reinhardswald. Der Wolf, das ist vielleicht wichtig zu betonen, wurde nach dem Wald benannt; nicht umgekehrt. Jedenfalls: „Das war der erste Wolf in der Gegend seit fast 150 Jahren“, sagt Katharina Stenglein. Sie kümmert sich beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu) NRW gemeinsam mit Gudrun Maxam um den Wolf und seine Angelegenheiten.

Diese Angelegenheiten beginnen im Jahr 2000. Damals machten zwei Wölfe aus dem polnischen Teil der Muskauer Heide rüber nach Sachsen in die Oberlausitz. Das Wolfspaar setzte Welpen in die Welt und mit dem Nachwuchs entstand das erste Wolfsrudel in Deutschlands freier Wildbahn seit der Ausrottung im Jahr 1904 – damals war in Hoyerswerda der „letzte“ bekannte Wolf geschossen worden. Rudel waren schon seit 1850 in Deutschland nicht mehr beobachtet worden. Das Jahr 2000 gilt somit als das Jahr der Rückkehr der Wölfe. Genau 20 Jahre ist das her – es ist eines der stillen Jubiläen im Land.

Natürlich hatte es auch vorher immer wieder mal Wölfe gegeben, die von Osten her auf deutsches Gebiet gelangten. Der Nabu hat mitgezählt: Zwischen 1945 und 1990 wurden 22 eingewanderte Wölfe erschossen – neun in der Bundesrepublik, 13 in der DDR. Und an der massiv befestigten innerdeutschen Grenze war zudem für eine nicht erfasste Anzahl Wölfe Schluss auf dem Weg gen Westen. Mit der Wiedervereinigung 1990 – noch ein Jubiläum in diesen Tagen – kam der Wolf schließlich in ganz Deutschland unter den Schirm verschiedener nationaler und internationaler Schutzgesetze und -maßnahmen.

105 Wolfsrudel in Deutschland gezählt

Das macht sich bemerkbar. Bei der bislang letzten amtlichen Zählung Ende 2019 wurden laut Bundesumweltministerium in Deutschland 105 Rudel, 25 Wolfspaare und 13 Einzeltiere erfasst. „Wie viele Individuen das sind, ist dennoch schwer einzuschätzen“, sagt Gudrun Maxam, „die Nachweise sind oft schwierig.“ Es gibt immer wieder Wanderwölfe, die einmal auftauchen und dann in andere Gegenden verschwinden; zudem liegt die Welpensterblichkeit sehr hoch, bei etwa 50 Prozent – die meisten davon kommen im Straßenverkehr ums Leben.

In NRW ging es nach Reinhards Kurzbesuch zunächst für ein paar Jahre mit ein paar Wanderwölfen weiter, inzwischen aber gibt es mehrere Wolfsgebiete – das sind Flächen, in denen Maßnahmen zum Herdenschutz gefördert werden können: Schermbeck bei Wesel war das erste, ein zweites Wolfsgebiet liegt in der Senne zwischen Paderborn und Bielefeld und ein weiteres in der Monschauer Eifel. Vor kurzem kam ein viertes Wolfsgebiet dazu im Bergischen Land/ Rhein-Sieg-Kreis, das zuvor Wolfsverdachtsgebiet war.

Aus ökologischer Sicht, erklärt Gudrun Maxam, ist der Wolf ein sinnvolles Regulativ in der Natur – ein großer Beutegreifer wie auch Fuchs und Luchs. Die Ausbreitung regelt sich dadurch, dass in den Wolfsrevieren – immerhin 150 bis 350 km² groß – stets nur ein Rudel lebt. Welpen müssen nach einem Jahr, wenn neuer Nachwuchs kommt, weiterziehen; fremde Wölfe werden verjagt.

Im Wolfsgebiet Schermbeck ist Maik Dünow (46) Schäfer wie schon sein Vater und, soweit er weiß, wie alle seine Vorfahren. Sein Hof umfasst 270 Hektar, an Schafen hat er etwa 1000 Muttertiere und noch mal so viele Lämmer. Wenn man seinen Betrieb besucht, steht an der Zufahrt auf der rechten Seite ein Verkehrsschild: „Achtung! Schafe“.

Wölfe sind im tiefen Bewusstsein der Menschen verankert

Seine Wolf-Geschichte geht so: „Ungefähr 2017 fing das an, dass hier hin und wieder ein Wolf durchzog. Ich stand dem Thema zwiespältig gegenüber. Ich habe gedacht, wir bekommen hier eh’ keinen Wolf. Und Herdenschutzhunde? Da bin ich der Letzte, der welche zugeteilt bekommt, hab’ ich gedacht, weil das ein Wahnsinnsprogramm war mit den ganzen Bestimmungen und Richtlinien.“

Zwei Hunde hatte er sich dann auf eigene Faust besorgt in Brandenburg – „ich wollte ja vorbereitet sein.“ Und dann ging alles ganz schnell: „Im Dezember 2018 gab es zwei Übergriffe. Da hatten wir über 40 tote und verletzte Schafe und Lämmer durch den Wolf Gloria.“ Dünow atmet mal durch. „Gloria von Wesel – so hat unser Landrat hier den Wolf getauft.“ Schöner Name. „Ja“, sagt Dünow, „danach bekam ich dann Herdenschutzhunde zugewiesen.“

Die Lektion: „Zwei Hunde waren zu wenig. Seit ich vier Herdenschutzhunde reinstellen konnte, herrscht Ruhe.“ Wie sieht das optimale Verhältnis aus zwischen Hunden und Schafen? „Schwer zu sagen“, sagt Dünow, „das einzige, was zählt: Wenn ich zu den Schafen komme und sehe, es sind noch alle da – dann weiß ich, es hat funktioniert.“

GW954f – das ist Glorias amtlicher Name. Er setzt sich zusammen aus der Abkürzung „GW“ für Grauwolf, einer Zahl als Laborkennung und einem „f“ für das Geschlecht – female, Frau oder wie man bei Wölfen sagt: Fähe. Gloria hat jetzt einen Partner, den Rüden GW1597m, der zudem ihr Bruder ist, wie man genetisch festgestellt hat. Dünow ist überzeugt, dass die beiden bereits Welpen haben. „Aber das kann ich nicht beweisen“, sagt er, „und glauben tut’s mir keiner.“ Glorias Bruder ist aber jetzt immerhin offiziell anerkannt – seine Spuren wurden in Schermbeck überall nachgewiesen bei den jüngsten und ungewohnt intensiven Attacken auf Schafe und Damtiere.

Es gibt wenige Wesen, die im kollektiven Bewusstsein der Menschheit so tief verankert sind wie der Wolf. Auf den Kunstwerken der steinzeitlichen Jäger und Höhlenmaler ist er verewigt, die Brüder Romulus und Remus, Gründer von Rom, wurden der Legende nach von einer Wölfin gesäugt, die Indianer verehrten den Wolf und in der Bibel warnt Jesus im Neuen Testament „vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“

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Symbolbild.

Noch in den Märchen der Brüder Grimm kommt der Wolf nicht gut weg: Im „Rotkäppchen“ etwa verschlingt er das junge Mädchen und die Großmutter gleichermaßen – Auftritt und Verhalten legen eine sexuell basierte Interpretation der Geschichte nahe. Diesen Aspekt der Angst vorm bösen Wolf hatten und haben die Werwolf-Mythen in aller Welt zu beinahe allen Zeiten behandelt.

Bis in die Neuzeit hinein stand der Wolf aber auch im realen Leben für den ultimativen Alptraum – Gefressenwerden oder Verhungern. „Das kommt aus Zeiten“, sagt Gudrun Maxam vom Nabu, „wo die Leute anders dachten über den Wolf: Sie hatten vielleicht eine Ziege zuhause und ein paar Hühner.“ Die Hühner holte gerne der Fuchs und wenn der Wolf vorbeikam und die Ziege fraß, war man nicht nur hilflos, sondern ruiniert.

Diese Wahrnehmung hat sich offenkundig verändert. In der Schweiz gab es in der vergangenen Woche eine Volksabstimmung zu der Frage, ob das Jagdgesetz geändert und der Abschuss von Wölfen erleichtert werden solle. Die Schweizer stimmten mit 51,9 Prozent gegen eine Änderung. Die Analysen zeigten einen drastischen Unterschied im Stimmverhalten zwischen den Städtern in der Westschweiz, die den Wolf toll finden und den Bergkantonen, also dort, wo die Leute mit dem realen Raubtier leben.

Kathrin Stenglein vom Nabu erzählt die Geschichte so: „Was sich geändert hat seit früher: Die Gesellschaft möchte Biodiversität und Naturschutz, das ist ein Konsens. Es gibt den Wunsch nach intakter Natur.“ Und da gehört ein Wolf offenbar dazu. Gudrun Maxam ergänzt: „Der Wolf ist so etwas wie ein moralischer Spiegel: Wir wollen, dass Indien gut zu den Tigern ist und Afrika gut zu den Löwen. Also müssen wir auch vernünftig mit dem Wolf umgehen.“

„Wir gehen in die Schulen und klären auf über den Wolf“

Diesen „Konsens“ belegen Zahlen. Ob sie sich durch den Wolf bedroht fühlten, wurden Leute 2018 repräsentativ gefragt – 85 Prozent der Befragten sagten Nein oder eher nicht; nur drei 3 Prozent sagten: ja. Ein möglicher Grund für diese positive Einstellung: „Es gibt jetzt 20 Jahre lang den Wolf wieder in Deutschland“, sagt Katharina Stenglein, „und es gibt keinen einzigen Fall eines Angriffs auf einen Menschen.“ Gudrun Maxam ergänzt: „Wir gehen in die Schulen und klären auf über den Wolf – nicht emotional, sondern sachlich und biologisch. Aber bei aller Aufklärung“, betont sie, „am wahrscheinlichsten ist natürlich, dass man in freier Wildbahn niemals einem Wolf begegnet.“

Aber manchmal eben doch. Simon Darscheid (41) lebt in Hennef – im jüngsten der Wolfsgebiete von NRW. Er ist gelernter Dachdeckermeister, hat aber mit Schafen zu tun, seit er sechs Jahre alt ist: „Meine Mutter war gelernte Schäfermeisterin, nach ihrem Tod hat mein Vater den Betrieb weitergeführt. Ja, und jetzt eben ich.“ Er ist Bezirksvorsitzender des Schafzüchterverbands NRW und vertritt somit gut 1700 der 17000 Schafhalter-Betriebe in Deutschland.

Man hat ihm einen Handyfilm zugeschickt: „Hier, können Sie gucken.“ Zu sehen ist die Aufnahme von ein paar Wolfswelpen, die vom Filmenden angerufen werden und dann auch ganz zutraulich hin und her hopsen, bis sie irgendwann im Unterholz verschwinden. Das sind jene Welpen aus dem Eitorfer Land, deretwegen auch Hennef zum Wolfsgebiet erklärt wurde. „Unfassbar“, sagt Darscheid über die Bilder, „diese kleinen Wölfe lernen hier, dass Menschen ganz okay sind und dass man da ruhig mal hin kann. Nicht zu glauben.“

Wolf jagt kranke und schwache Tiere

Darscheid bewirtschaftet 20 Hektar, an Schafen hat er 100 Muttertiere und 150 bis 200 Lämmer, dazu ein paar Legehennen – „ich habe hier einen Bio-Betrieb.“ Die Lage ist so: Es gibt das Rudel in Eitorf, eine Wolfs-Pufferzone in Königswinter und hier in Hennef war der Wolf schon bis auf ein paar 100 Meter an den Schafen dran. „Ich sorge mich nicht darum“, sagt Darscheid, „dass der Wolf mal ein Lamm holt. Ich sorge mich um die 15, 20 Tiere, die er dabei anfällt, denen er die Kehle durchbeißt.“

Wenn der Wolf im Wald, in der Natur jagt, dann holt er die kleinen, schwachen, kranken Tiere. „Wenn er in die Schafsherde kommt“, sagt Darscheid, „trifft er auf eingezäunte Tiere, die nicht fliehen, sondern in Panik verfallen. Dann beißt er zu.“ Er hat jetzt, wie auch Maik Dünow in Wesel, von den Behörden zur Wolfsabwehr Material bekommen für einen Schutzzaun. Übermannshohe und fassrunde Holzstämme für den Festzaun liegen zu Dutzenden auf dem Hof. „Bei dem trockenen Sommer und dem ausgetrockneten Boden“, sagt Darscheid und zuckt die Schultern, „bekommt man die keinen Zentimeter in die Erde.“

Wenn die Zäune aber nicht innerhalb einer Frist fertig und voll funktionsfähig sind, verfällt der Anspruch auf Schadenersatz – falls ein Wolf kommt. Darscheid muss jetzt, damit die Zäune den behördlichen Vorgaben entsprechen 800 Meter Brombeerhecke wegroden – dabei gelten Hecken eigentlich als ökologisch hoch wertvoll für Kleintiere aller Art. „Das“, sagt er, „sollten sich Naturschützer mal ansehen – aber das interessiert offenbar niemanden.“

Der Mehraufwand für die Schäfer an Arbeit und Kosten sei immens. „Sieben Schafhalter haben jetzt gerade wieder aufgegeben“, sagt Darscheid, „die Lage ist eh nicht rosig und dann sagen die sich: »Ich züchte doch kein Wolfsfutter.«“

Darscheid wird sich zwei Herdenschutzhunde zulegen. Wichtig: Man darf diese Hunde nicht mit den Hütehunden verwechseln – Herdenschutzhunde können und werden im Zweifel Wölfe töten. Maik Dünow erklärt: „Das müssen wesensstarke Hunde sein, die entspannt bleiben; sie müssen mit jeder Situation umgehen können; auch unter Stress – sie müssen auf die Schafe achten und auf den Wolf. Sie sind hauptsächlich nachtaktiv, denn da geht’s ja zur Sache. Und alles, was zu den Schafen in den Zaun reinkommt, ist fällig – ganz klar“, sagt Dünow, „außer Menschen. Die darf er nur stellen und verbellen, aber beißen darf er nicht. Das ist Prüfungsstoff für die Hunde.“

18 Pyrenäen-Berghunde hat Dünow inzwischen, die schon als Welpen mit den Schafen zusammenleben und dann wie ein Teil der Herde denken. Sie arbeiten in unterschiedlichen Herden. „Die mögen keine Kommandos“, sagt Dünow, „die arbeiten selbstständig und alleine. Müssen sie ja auch. Die Hunde bieten Schutz 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr – und dann dürfen sie nichts kosten.“ Die Ausgaben für Tierarzt und Futter – immerhin 1200 Euro im Monat – werden nicht ersetzt.

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„Wenn ich die Herdenschutzhunde habe“, sagt Darscheid, „dann werden wir alle hier den Umgang damit lernen müssen. Kinder und Radfahrer müssen vorsichtig sein und absteigen, wenn sie am Zaun vorbeikommen, kleine Hunde gehören an die Leine. Und ja, sie bellen nachts – das ist ja ihre Aufgabe.“

„Mein Verhältnis zum Wolf ?“, sagt Dünow, „der Wolf ist zurück, um zu bleiben. Ich habe damit kein Problem. Es ist aber eine Gemeinschaftsaufgabe und darf nicht auf Kosten der Schäfer gehen.“ Darscheid sagt es so: „Der Wolf soll uns in Ruhe lassen. Das ist einfach gesagt, aber so einfach ist es eben nicht.“