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Dem NS-Terror auf der SpurEine vergessene Widerstandskämpferin aus Wiedenest

Lesezeit 9 Minuten
Das Foto zeigt Häftlingsarbeit in der Schneiderei des Konzentrationslagers Ravensbrück.

Häftlinge in der Schneiderei des KZ Ravensbrück, aus einem SS-Album. Die Fotos sollten den „produktiven Häftlingseinsatz" zeigen.

Mathilde Lauterjung, geborene Reichmann, ist heute vergessen. Akten und ein Interview erzählen die Lebensgeschichte einer Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime.

Der 27. Februar 1933 scheint ein ganz normaler Tag zu sein. Im Haus der Familie Reichmann in Bergneustadt-Wiedenest treffen sich abends Mitglieder und Freunde der Kommunistischen Partei Deutschlands. Denn die Reichmann-Geschwister sind alle überzeugte KPD-Anhänger. Elfriede Reichmann war sogar als Kandidatin für die Wahl zum Reichstag aufgestellt worden – für eine einfache Fabrikarbeiterin etwas besonders. Auch an diesem Abend wird diskutiert, es geht um die bevorstehenden Wahlen.

Was keiner ahnt: Rund 500 Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Berlin, ist am gleichen Abend im Reichstag ein Feuer ausgebrochen. Der mutmaßliche Brandstifter, ein junger Holländer namens Marinus von der Lubbe, wird vor Ort festgenommen. Für die neue NS-Regierung unter Adolf Hitler kommt das wie gerufen. Sie schiebt den Brand den Kommunisten in die Schuhe, noch in der Nacht werden Tausende von KPD-Funktionären inhaftiert.

Das Foto zeigt den brennenden Reichstag in der Nacht des 27. Februar 1933.

Der brennende Reichstag in der Nacht des 27. Februar 1933.

Auch die Polizei in Lieberhausen – sie ist für Wiedenest zuständig – wittert eine kommunistische Verschwörung und greift durch. Gleich am nächsten Tag vernimmt sie die Teilnehmer des Treffens. Die Schwestern Margarethe und Elise Reichmann landen im Gummersbacher Gefängnis – ohne Haftbefehl. Ein neues Gesetz erlaubt die sogenannte „Schutzhaft“. Zwei andere Schwestern, die bereits erwähnte Elfriede und Mathilde, tauchen unter.

Dokumentiert ist dies in Akten, in den Landesarchiven NRW in Duisburg und in Münster und im Stadt- und Kreisarchiv Gummersbach. Doch zu Mathilde Ketschau, geborene Reichmann, geschiedene Lauterjung (1897-1976), existieren noch viele weitere Quellen, mit denen sich ihre Biografie und ihr Widerstand gegen das NS-Terrorregime nacherzählen lassen. Im Sommer 1974, zwei Jahre vor ihrem Tod, wird Mathilde Ketschau von zwei Ehrenamtlern der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) interviewt, die das rund einstündige Gespräch auf Tonband aufzeichnen. Und so hat es sich erhalten – ein großer Glücksfall für die Forschung.

Ein Interview gibt Auskunft

Mathilde kommt 1897 in Witten an der Ruhr zur Welt, als viertes von acht Kindern. Die Mutter Auguste, geborene Westerhold, zieht die Kinder groß. Der Vater, Carl Reichmann, ist Schneider von Beruf, und überzeugter Sozialdemokrat. Um 1910 zieht die Familie Reichmann in Oberbergische um, nach Wiedenest. Nach acht Jahren Volksschule geht Mathilde als Arbeiterin in die Fabrik. Erst in eine Textilfabrik, dann findet sie Arbeit bei Steinmüller in Gummersbach, in einer Granatengießerei.

Mittlerweile ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen, weil die Männer an der Front kämpfen, werden in der Rüstungsindustrie viele Frauen eingesetzt. Als die Beschäftigten bei Steinmüller aufgefordert werden, Kriegsanleihen zu zeichnen, weigert sich die junge Arbeiterin, ebenso wie fünf andere Frauen. „Da mussten wir zum Chef kommen, zum Steinmüller. Und wir haben es doch bezahlen müssen. Ich hab Mordio, Krach gemacht. Und da sagt der, ‚sie haben doch auch Brüder im Krieg‘. ‚Ja‘, sage ich, ‚sicher. Aber ob der jetzt von dem Geld unterstützt wird, das bezweifele ich‘.“

Als Arbeiterin in der Granatengießerei bei Steinmüller

So erzählt es Mathilde im Interview, eine Episode, die ihren Mut zeigt. Wie ihre Schwestern und ihr Bruder Walter, alle Fabrikarbeiter, begeistert sie sich für die noch junge KPD. „1926 haben wir die Partei gegründet in Gummersbach. Unser Bezirk ging von Gummersbach bis Eckenhagen, der musste bearbeitet werden. Wir waren jeden Sonntag auf Tour, für mündliche Diskussionen, Flugblätter verteilen.“

Bei der KPD lernt Mathilde Reichmann wohl auch ihren ersten Ehemann kennen, den 18 Jahre älteren Witwer August Lauterjung aus Wipperfließ. Beiden heirateten 1930 in Gummersbach. August Lauterjung, dessen erste Frau 1924 verstorben war, bringt drei Kinder mit in die Ehe. Zwei sind schon erwachsen, der jüngste Sohn Gustav ist acht. Doch die Ehe hält nur kurze Zeit. Schon nach drei Monaten verlässt Mathilde ihren Mann und geht zurück zu ihren Eltern. Im Januar wird die Ehe 1934 geschieden. Mathilde Lauterjung behält den Namen ihres Ex-Mannes.

Massenarbeitslosigkeit stärkt die Extremisten

Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise trifft auch Oberberg. Mathilde Lauterjung wird wie so viele entlassen, lebt von Arbeitslosenunterstützung und der Wohlfahrt. Massenarbeitslosigkeit und Not stärken die Extremisten: Die KPD, die eine Revolution nach sowjetischem Vorbild anstrebt, und die rechtsradikale NSDAP, die mit Hass und Hetze Stimmung macht.

Bei der Wahl am 5. März 1933 erhalten NSDAP und ihre Koalitionspartner mit einem Rechtsbruch die absolute Mehrheit – die Mandate die KPD werden nicht mitgezählt. Ihre gewählten Abgeordneten sind inhaftiert, untergetaucht oder ins Ausland geflohen. Die Weimarer Demokratie ist am Ende. Elfriede und Mathilde, die beiden Schwestern, werden von der Polizei geschnappt und landen im berüchtigten Kölner Stadtgefängnis, dem „Klingelpütz“.

Das Foto zeigt einen Flügel des Kölner Klingelpütz-Gefängnisses im März 1945, nach der Befreiung Kölns durch US-Truppen.

Ein Flügel des Kölner Klingelpütz-Gefängnisses im März 1945, nach der Befreiung Kölns durch US-Truppen.

Während Elfriede zu ihren Schwestern nach Gummersbach überstellt wird – alle drei werden Anfang Juni entlassen – bleibt Mathilde im Haft. Weil sie Marken für die „Rote Hilfe“ verkauft hatte, einen Verein, der inhaftierte Kommunisten und ihre Familien unterstützt, gilt sie als Staatsfeind. Aus dem Klingelpütz schreibt sie dem Landrat in Gummersbach, bittet um Entlassung oder doch zumindest um Verlegung nach Oberberg. Ohne Erfolg.

Schließlich, nach über drei Monaten Gefängnis, wird sie im September 1933 in das Konzentrationslager Brauweiler überstellt. Dort sitzen zeitweise fast 900 Gegner des Regimes ein, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten. Rund sechs Prozent der KZ-Häftlinge in Brauweiler sind Frauen. Am 19. Januar 1934 wird Mathilde Lauterjung entlassen.

Sie wissen ja, das ist heute nicht so schwer, jemanden einen Kopf kleiner zu machen.
Der Bürgermeister von Lieberhausen 1934zu Mathilde Lauterjung

Zurück in Oberberg, muss sie sich beim Bürgermeister melden, der ihr droht:„Sie wissen ja, das ist heute nicht so schwer, jemanden einen Kopf kleiner zu machen.“ Kurz darauf erhält sie Post vom Oberlandesgericht Hamm. Das klagt sie der „Vorbereitung zum Hochverrat“ an. Mathilde Lauterjung entschließt sich zur Flucht. Mit dem Fahrrad radelt sie von Wiedenest bis an die holländische Grenze bei Heerlen und lässt sich in Amsterdam nieder – wie viele Deutsche, die vom NS-Regime verfolgt werden, aus politischen Gründen oder weil sie Juden sind.

Im Landesarchiv in Duisburg findet sich die Abschrift eines Briefes von Mathilde Lauterjung an ihre Mutter. Aufgegeben wurde er demnach in Moskau, wohin sie offenbar im Auftrag der Partei geschickt worden war. Sie schwärmt davon, wie „gerne die Menschen hier für den Sozialismus arbeiten“. Kurz darauf ist sie wieder zurück in den Niederlanden, wo sie mit Waschen, Putzen und Nähen ihren Lebensunterhalt verdient.

Flucht mit dem Fahrrad nach Holland

Während sie im Exil vorläufig sicher lebt, ergeht es ihren Geschwistern schlecht. Ihr Bruder Walter wird im Herbst 1933 wegen Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags vom Reichsgericht in Leipzig zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt und kommt anschließend für eineinhalb Jahre ins KZ Dachau. Nach Kriegsausbruch steckt man ihn ein eine Strafkompanie, im Sommer 1944 fällt er auf der Krim.

Margarethe landet vor dem berüchtigten Volksgerichtshof in Berlin und wird wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die Haft verbüßt sie im Klingelpütz. Noch härter trifft es ihre Schwester Elfriede. Das OLG Hamm sieht in ihr den Kopf einer Gruppe, die in Oberberg eine illegale KP-Ortsgruppe gründen wollte. Die Strafe: Sechs Jahre Zuchthaus in der Haftanstalt Dreibergen in Mecklenburg.

Drei Geschwister landen im Zuchthaus

Ihre Schwester Mathilde verliebt sich in Holland in den Kölner Zimmermann Willi Ketschau (1894-1959), beide werden ein Paar. Als in Spanien 1936 der Bürgerkrieg ausbricht, kämpft Ketschau dort aufseiten der Internationalen Brigaden gegen die Faschisten. 1938 kehrt er zurück und geht nach Paris, wo er mit Mathilde lebt, ehe beide in die Niederlande ausgewiesen werden.

Am 1. September 1939 beginnt mit den deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Im Mai 1940 überrollt die deutsche Wehrmacht die neutralen Niederlande und besetzt sie. Einen Monat später, im Juni 1940, wird Mathilde Lauterjung von der Gestapo in Amsterdam verhaftet. Erneut sperrt man sie im Klingelpütz ein und verhört sie mehrfach. Mit großer Wahrscheinlichkeit geschieht das in der Gestapo-Zentrale am Appellhofplatz, heute Sitz des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln.

Verhört von der Gestapo

Das OLG Hamm verurteilt auch sie wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ im März 1941 zu zwei Jahren Gefängnis, die sie in der Haftanstalt in Essen verbüßt. Von dort wird sie, ohne Angabe von Gründen, im August 1942 ins KZ Ravensbrück abtransportiert, Häftlingsnummer 12.912.

Rund 120.000 Frauen und Kinder sowie 20.000 Männer werden von Mai 1939 bis April 1945 nach Ravensbrück verschleppt. Schätzungsweise rund 28.000 Menschen sterben dort an Hunger, Krankheiten oder werden ermordet. Die Verpflegung wird mit fortschreitender Kriegsdauer immer schlechter. Im Winter 1944/45 gibt pro Kopf täglich oft nur noch 100 Gramm Brot und einem Napf Suppe aus Rübenabfällen oder Kartoffelschalen.

Das Bild zeigt eine Bleistiftzeichnung einer politischen Gefangenen aus Polen im KZ Ravensbrück.

Die Bleistiftzeichnung, angefertigt von einer KZ-Insassin aus Ravensbrück, zeigt eine politische Gefangene aus Polen.

Anfang 1945 beginnt in Ravensbrück Massenmorde. Jeweils 50 Häftlinge werden auf den Hof des Krematoriums geführt und dort erschossen. Zudem lässt die SS eine Werkzeugbaracke zu einer Gaskammer umbauen. Bis Ende März werden in dieser Gaskammer wohl um die 5000 Gefangene umgebracht.

Im Februar 1945 erhält Graf Folke Bernadotte, Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes, von Heinrich Himmler die Genehmigung, skandinavische Häftlinge aus deutschen Lagern nach Dänemark zu bringen. Die Bedingung: Das Internationale Rote Kreuz muss sich selbst um den Transport kümmern.

Das Foto zeigt weiße Busse des Schwedischen Roten Kreuzes 1945, vermutlich in der Nähe von Friedrichsruh.

Weiße Busse des Schwedischen Roten Kreuzes 1945, vermutlich in der Nähe von Friedrichsruh.

Am 8. April 1945 – einen Monat vor Kriegsende – kommt in Ravensbrück ein Konvoi aus Bussen und Lastwagen an. Die Fahrzeuge sind weiß angestrichen, in der Hoffnung, sie so vor alliierten Tieffliegern zu schützen. Mit mehreren weiteren Transporten gelangen bis Ende April exakt 7396 Frauen und 12 Männer nach Skandinavien in Sicherheit.

Darunter ist auch Mathilde Lauterjung, die als „Staatenlose“ das Lager verlassen darf – das Deutsche Reich hatte sie ausgebürgert. Ohne Pass reist sie im November 1945 illegal nach Deutschland ein. Auf abenteuerlichen Wegen – viele Brücken und Bahnhöfe sind zerstört – gelangt sie bis nach Kotthausen und zu Fuß weiter nach Windhagen, dort lebt ihre ältere Schwester Emma mit ihrem Mann. 1946 sieht sie Willi Ketschau endlich wieder, die beiden heiraten 1947 und leben in Köln, zusammen mit einer Tochter aus Ketschaus erster Ehe.

Wie ihre Geschwister, bleibt auch Mathilde Lauterjung nach dem Krieg überzeugte Kommunistin, sie engagiert sich in der VVN. Am 8. Mai 1976 stirbt Mathilde Lauterjung, kurz vor ihren 79. Geburtstag. Sie war eine außergewöhnlich mutige Frau, die dem NS-Terrorregime offen Widerstand geleistet hat, obwohl sie wusste, wie gefährlich das war. Sie hat es verdient, dass man an sie erinnert. Ihre politische Überzeugungen muss man deshalb nicht teilen.


Der Klingelpütz: Ein Gefängnis mit Geschichte Seit 1838 wurde der neu gebaute Klingelpütz als Gefängnis der preußischen Rheinprovinz genutzt. Im Frühjahr 1933 dient der Klingelpütz als die zentrale Schutzhaftstätte, bereits am 2. März werden dort 170 politischer Gefangene untergebracht. Die Schutzhäftlinge kommen aus Köln und der gesamten Region. Anfang April sitzen im Klingelpütz schon 350 Schutzhäftlinge ein, zusätzlich zu den über 800 Justizhäftlingen. Im Mai und Juni 33 pendelt sich die Zahl der Schutzhäftlinge bei 220 Personen ein, darunter zehn bis 20 Frauen, eine von ihnen ist Mathilde Lauterjung.

Im Klingelpütz werden regelmäßig zum Tode Verurteilte hingerichtet, in der gesamten NS-Zeit schätzungsweise rund 1000 Menschen. 1944 übernimmt die Gestapo Teile des Gefängnisses, es herrschen entsetzliche Zustände. Mord an Gefangenen wird zur furchtbaren Normalität, bis die Amerikaner Anfang März 1945 Köln befreien. Im Jahr 1969 wird das über 130 Jahre alte Gefängnis abgerissen.