Blick in die GeschichteAls Seuchen in Oberberg noch an der Tagesordnung waren
- Seuchen waren früher im Oberbergischen fast an der Tagesordnung. Die Ärzte waren ahnungslos, die Infizierten ohne Schutz.
- Arzneien, die diese Symptome lindern, gab es nicht. Ein Blick in die Geschichte der Seuche.
Oberberg – Die Bedrohung, die das Coronavirus in diesen Wochen darstellt, war im 19. Jahrhundert der Normalzustand für die hiesige Landbevölkerung. Regelmäßig brachen flächendeckende Seuchen aus. Und das hatte seinen Grund.
1835 wurden die sanitätspolizeilichen Vorschriften für die am häufigsten vorkommenden ansteckenden Krankheiten veröffentlicht. So war das Auftreten der Pocken meldepflichtig. In Deutschland fielen dieser Krankheit Ende des 18. Jahrhunderts noch mehr als 60 000 Menschen pro Jahr zum Opfer. Der Gummersbacher Bürgermeister Christian Pickhardt forderte am 13. Februar 1836 im Aggerblatt, der ersten und einzigen Zeitung in den damaligen Kreisen Gummersbach, Wipperfürth und Waldbröl, die Leserschaft auf: „Alle Bewohner der Gemeinde, bei denen sich Pockenkranke ergeben, müssen bei der Polizeibehörde sofort hiervon die Anzeige machen, widrigenfalls werden dieselben zu einer Strafe von 3 bis 5 Thalern, eventualiter zu einer Gefängnisstrafe von 8 Tagen herangezogen“. Die Androhung von Strafe zeigte, wie gefährlich eine Pockenepidemie durch die Obrigkeit eingeschätzt wurde. Um eine Epidemie frühzeitig bekämpfen zu können, war schon damals das Auftreten der Erkrankungen von den Ärzten der Polizei anzuzeigen.
Wenig Nahrung, wenig Platz
Die mangelhafte Ernährung und enge Wohnverhältnisse stellten einen günstigen Nährboden für Krankheiten dar. Eine zentral geregelte Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung existierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Diese Zustände hielten sich in den Bauernhaushalten südlich der Agger und in den abgelegenen Dörfern unverändert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
1836 bewertete der damalige Kreisarzt Dr. Osberghaus die Gesundheit der 27 273 preußischen Untertanen im Kreise Gummersbach als nicht zufriedenstellend. Im Aggerblatt berichtete er über die Ausbreitung der Tuberkulose: „Auffallend ist die große Anzahl der an der Abzehrung Verstorbenen, und dies zeugt eben nicht von einem guten Gesundheitszustande unseres Kreises“.
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Im Laufe des Jahres 1834, so hatte es der Kreisphysikus ermittelt, waren 713 Personen aus dem Leben geschieden. Von den Verstorbenen erlagen 307 Personen der „Abzehrung“. Nur 290 Erkrankten wurde eine ärztliche Behandlung zuteil. Auf die Gründe ging der Kreismediziner nicht ein. Vermutlich konnte ein Arzt von den Angehörigen des Kranken oft nicht bezahlt werden. Trotz der hohen Zahl der Toten schrumpfte die Kreisbevölkerung jedoch nicht, da im selben Jahr ein Geburtenüberschuss von 367 Kindern errechnet wurde. Eine hohe Kinderzahl war damals nicht außergewöhnlich. Schließlich garantierten viele Kinder, dass das Einkommen der Familie durch Kinderarbeit wuchs und die Eltern im Alter versorgt wurden.
Tod durch „Abzehrung“
Osberghaus hatte die Häufung der Todesursache „ Abzehrung“ keine Ruhe gelassen – die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers durch Robert Koch lag noch mehr als 40 Jahre in der Zukunft. Osberghaus forschte nach der Ursache der hohen Sterblichkeit und kam zum Ergebnis: „Städtische Sitten und Gewohnheiten haben sich zu unserm großen Nachteil allgemein auf dem Lande verbreitet.“
Tatsächlich wanderten die Männer im Sommer auf Arbeitssuche in die nahen Städte Barmen und Elberfeld, manche sogar bis nach Düsseldorf, um der Armut in der oberbergischen Heimat zu entgehen. Sie waren dort als Maurer und später als Pflasterer sehr gesucht. Im Wuppertal, damals ein expandierendes industrialisiertes Gebiet, blieben sie bis spät in den Herbst.
Dem Mediziner Osberghaus fiel auf, dass fast 43 Prozent der Verstorbenen an Tuberkulose gelitten hatten. Als Ausgangspunkt der Schwindsucht identifizierte er eine Erkältung: „Ein leichter Katarrh, welcher vernachlässigt wird, legt den Grund zu einer später unheilbaren Lungensucht.“ Hinzu kam nach seiner Beobachtung der übermäßige Genuss von Ersatzkaffee. „Für eine der Haupt-Ursachen dieser so auffallend großen Anzahl der an der Abzehrung Verstorbenen halte ich nun auch das so äußerst häufig gewordene Cichorien-Trinken, was in gar vielen Familien täglich wohl dreimal stattfindet.“
Verbot der Kinderarbeit um Schwächung zu vermeiden
Dieser Vermutung widersprach im April des Jahres 1836 im Aggerblatt der Redakteur Dr. Schnabel. Er machte „eine zum Theil schon erblich gewordene Anlage“ aus. Daneben führte er zwei weitere Ursachen an: „Erstens, die frühen, den Jahren nicht angemessenen körperlichen Anstrengungen, wie solche in rein Ackerbau treibenden Gegenden.“ Die Belastungen schränkten die körperliche und geistige Entwicklung der Heranwachsenden so ein, dass auch bei den Musterungen für das preußische Heer immer häufiger die Rekruten als untauglich bewertet werden mussten. Der preußische Staat reagierte mit einem teilweisen Verbot der Kinderarbeit – um die Schwächung der Wehrfähigkeit Preußens abzuwenden.
Doch auch Schnabel sieht die Schuld bei den Kranken: „Die zweite und wichtigere Ursache müssen wir ohne Zweifel in der schlechten und unordentlichen Lebensweise suchen. Dahin gehören Ausschweifungen jedweder Art, schlechte Speisen und Getränke, unzweckmäßige Kleidung und Mangel an Reinlichkeit.“ Durch die Selbstvernachlässigung trete zudem Krätze auf, eine Hautkrankheit, „die zu einer Anzahl von weiteren Krankheiten einen immer furchtbareren Boden bietet“.
Alkoholismus als große Gefahr
Als die gefährlichste Ursache bewertete Schnabel den Alkoholismus der niederen Schichten: „Dem stets tiefer einfressenden, Geist und Körper vergiftenden Genuss des Branntweins, der noch dazu meistens von schlechter Qualität sein soll, kann nichts den Rang unter den Mitteln zum langsamen Selbstmord streitig machen.“
Tatsache war: Die engen Stuben der Landbevölkerung hatten meist nur ein kleines Fenster. Die in zahlreichen Familien übliche Heimarbeit bedrohte die Gesundheit vor allem der Kinder und Jugendlichen. Oft saßen in einer solchen Stube „den Tag durch 7 bis 8 Personen und spinnen Baumwolle, oder haben sonst ihre Geschäfte; um das Licht zu sparen, gesellen sich des Abends noch mehrere hinzu“. Das Gedränge war ein idealer Nährboden für ansteckende Krankheiten. Zudem war die Atemluft durch die verschiedenen Tätigkeiten stark belastet. Der Chronist Pastor von Steinen schrieb im Aggerblatt über die Lebens- und Arbeitsbedingungen: „Man denke sich hier den Staub, welcher von diesem Spinnen kommt; denke daß zugleich in der nämlichen Stube, wenigstens im Winter, für Menschen und Vieh gekocht wird, und also der Schwaden sich mit dem Staube vereinigt, denke die Ausdünstungen der Menschen selbst in so einem engen Bezirke – wer wird da glauben können, daß die Menschen gesund bleiben?“
Bedrohung durch die Grippe
Noch eine andere Krankheit beunruhigte kurze Zeit später, im Jahre 1837, die überörtlichen Verantwortlichen. Im März hieß es noch unter der Überschrift „Wiedererscheinung der Influenza“ im Aggerblatt: „Sie ist beim Gebrauch dienlicher Mittel leicht zu heilen, kann aber durch Vernachlässigung gefährlich werden“. Gemeint war damit die Grippe, die bereits innerhalb Preußens aufgetreten war. Das Königlich-Preußische Ober-Collegium informierte als oberste Gesundheitsbehörde die Öffentlichkeit über die aus dem Osten heranrollende Epidemie: „Die gegenwärtige Influenza ist nach offiziellen Nachrichten aus Königsberg und Warschau derjenigen, welche 1722 herrschte, ganz ähnlich.“
Spanische Grippe vor 100 Jahren
Als hätte er’s geahnt: In seinem Artikel für Band 13 der „Beiträge zur Oberbergischen Geschichte“ unter dem Titel „1918: Das Oberbergische im Fieber – Die Influenza-Epidemie an der Agger“ stellt unser Autor, der Engelskirchener Lokalhistoriker Peter Ruland die Vermutung auf, dass eine solche Epidemie in der Neuzeit nicht auszuschließen sei. Keine vier Monate nach Erscheinen des Buchs bricht sich der Coronavirus Bahn über die ganze Welt. In dem Aufsatz über die Spanische Grippe (und einem Zeitungsbeitrag in unserer Reihe „Geschichten aus der Geschichte“) berichtet Ruland, dass 1918 im Deutschen Reich schätzungsweise 250 000 Menschen an der Grippe verstorben sind. Marcus Dräger, der Vorsitzende der Abteilung Oberberg des Bergischen Geschichtsvereins (BGV), weist darauf hin, dass Band 13 noch zu haben ist. Interessenten melden sich in der Geschäftsstelle bei Dieter Forst unter forstdieter@t-online.de oder unter (02261) 7 75 52.
Nicht minder aktuell in Zeiten starker Beanspruchung des heimischen Gesundheitswesens sei der Aufsatz von Dr. Alexander Rothkopf „Zur Entwicklung der medizinischen Versorgungseinrichtungen im alten Oberberg“, sagt BGV-Vorsitzender Dräger. Der ist im inzwischen vergriffenen Band 10 der Serie erschienen, weshalb ihn der Geschichtsverein Interessenten jetzt kostenlos als pdf-Datei zur Verfügung stellt. Interessenten melden sich ebenfalls bei Dieter Forst. (kn)
Es folgten praktische Hinweise, wie die Influenza zu erkennen und zu behandeln sei. Die Krankheit gehe einher mit schwachen oder stärkeren Halsschmerzen und abwechselnd mit Frösteln sowie Hitze, die von Kopfschmerz begleitet werde. Dazu Ziehen in den Gliedern, Schnupfen, Husten und Halsschmerzen, in Einzelfällen auch Brustschmerzen und Seitenstiche. „Endlich ist auch wohl vorgekommen, daß solche Kranke schleimigen und gallichten Durchfall oder Erbrechen erlitten.“
Da die Ursache der Erkrankung unbekannt blieb, gab das Obersanitätskollegium zu Berlin nur allgemeine Empfehlungen zur Behandlung der Grippe heraus. Grundsätzlich wurde aber immerhin von so unwirksamen wie unangenehmen Therapien wie Aderlass, Brech- und Abführmitteln abgeraten. Stattdessen gab es allgemeine diätetische Vorschriften und eine Reihe von Hausmittelchen: Die Berliner Kapazitäten empfahlen zu Beginn der Krankheit Gerste, Hafer oder Schwarzbrot mit Honig und Essig abzukochen und dem Kranken zu verabreichen. Zur Nacht seien einige Tassen Fliedertee hilfreich.
Besondere Beachtung verdiente nach Meinung der damaligen Mediziner der Hinweis: „Der Kranke muß sich mäßig warm halten, aber alle hitzige Nahrungsmittel und Leidenschaften vermeiden. Zur Zeit der größten Schwäche, welche sich gemeiniglich den 3. oder den 4. Tag äußert, ist Bier- oder Weinsuppe zu empfehlen.“