Heinrich P. aus Engelskirchen erzählt, wie er im September von einer Telefonbetrügerin angerufen wurde, die sich als Enkeltochter ausgab.
„Kaum klaren Gedanken fassen“Betrüger nutzen perfide Schockanrufe – Ein Engelskirchener berichtet
Bis zum Klingeln des Telefons war es ein normaler Septembertag für Heinrich P., doch dann geriet die Welt des Engelskircheners aus den Fugen. Die Enkeltochter war am Telefon, sie habe zwei Menschen totgefahren und sitze im Gefängnis. So schilderte sie es P., der eigentlich anders heißt, aber seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will.
Wenige Tage vor dem Anruf sitzt ein 43-jähriger Mann auf der Anklagebank des Landgerichts München I. Laut Staatsanwaltschaft war der Mann Teil einer Bande, die bei älteren Menschen anrufen und ihnen eine extreme Situation vorspielen. Die Machart ist ähnlich wie der Anruf in Oberberg: Am Anfang schluchzt oft eine junge Frau ins Telefon.
Schockanruf: In Engelskirchen ist es vermeintlich die Enkeltochter
In Engelskirchen ist es vermeintlich die Enkeltochter. Die Stimme am Telefon sei „absolut vergleichbar“ gewesen, erinnert sich P., er hatte an diesem Tag noch an sie gedacht: Nach einem Urlaub in Amsterdam war sie seit dem Vormittag auf dem Heimweg nach Köln. Die Frauenstimme am Telefon sagte: „Es ist was Schlimmes passiert. Ich habe eine Frau tot gefahren“, immer wieder und wieder habe sie das wiederholt. Der Engelskirchener erinnert sich, dass er „kaum einen klaren Gedanken“ habe fassen können.
Das ist das entscheidende Element der Anrufe: Die extreme Notlage. „Die emotionale Betroffenheit, die die Opfer verspüren, ist wirklich heftig“, sagt Juliane Lomb, stellvertretende Leiterin des Referats für Wirtschaftskriminalität beim Bundeskriminalamt.
Betrüger sorgen am Telefon für einen hohen Stressfaktor bei den Opfern
Den Angerufenen werde eine nahezu perfekte Show geliefert, mit weitaus mehr Druck als beim seit Langem praktizierten sogenannten Enkeltrick. Auch in einem Mitschnitt der bayerischen Polizei, der bei dem Verfahren in München genutzt wird, sagt die Frau am Telefon mit tränenerstickter Stimme: „Ich habe eine Frau überfahren.“ Lomb sagt: „Wenn der vermeintliche Angehörige am Telefon mit weinerlicher Stimme agiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer die Geschichte glaubt, viel höher.“
Auch Heinrich P. glaubt erst der Frauenstimme am Telefon und fragt schließlich, wie er helfen könne. Er versucht den Kreislauf aus Schluchzen und Weinen am anderen Ende der Leitung zu durchbrechen, versucht einzuhaken und nachzufragen. Doch die Frau am Telefon ließ ihn kaum zu Wort kommen. „Ich habe eine Frau tot gefahren und ich bin Schuld“, gibt er das Gespräch wieder. Schließlich wiederholt auch er am Telefon nur noch: „Wie kann ich helfen“.
Für die Betrüger das Zeichen für den nächsten Schritt. Ein vermeintlicher „Oberstaatsanwalt“ übernimmt das Gespräch und schildert die Tat. „48-jährige Frau noch an der Unfallstelle verstorben, ein dreieinhalb jähriges Mädchen schwebt in Lebensgefahr“, es habe sehr offiziell geklungen, erinnert sich P.
Der Gedanke an die Opfer sei für ihn „die nächste Bombe gewesen“. Dann wird der „Oberstaatsanwalt“ konkret. Die Enkelin sei in Untersuchungshaft, bis eine Kaution hinterlegt sei. Zwischen 35.000 und 75.000 Euro. „Aufgrund der Schwere der Anschuldigungen eher am oberen Ende“, gibt P. die Forderung wieder.
Die Täter handeln nach Erkenntnis der Polizei vorwiegend aus dem Ausland. Das Bundeskriminalamt hat Polen, Tschechien und Großbritannien als Schwerpunkte ausgemacht. In Deutschland sind Abholer unterwegs, wie mutmaßlich der 43-Jährige in München. In Wellen seien einzelne Regionen betroffen um die Arbeit eines Abholers zu bündeln.
Telefonbetrug: Der Oberstaatsanwalt sprach akzentfreies Deutsch
Während der „Oberstaatsanwalt“ weiter redet, überlegt P., wie er das Geld für die Kaution auftreiben kann. Er ist 90 Jahre alt, in seinem Arbeitsleben war er im Außendienst tätig. „Oft waren wir in Osteuropa“, schildert er. Stresssituationen waren für ihn Alltag in der wilden Wendezeit. All das sei ihm durch den Kopf geschossen und plötzlich habe sich regelrecht ein Schalter umgelegt. P. hörte genauer hin.
Der Oberstaatsanwalt habe akzentfreies Deutsch gesprochen. Doch ihm sei in der Stimme eine Färbung aufgefallen. „Ganz schwach, aber das war eindeutig jemand aus Osteuropa“, ist sich P. sicher.
Die Betrüger besorgen sich die Telefonnummern oft aus dem Telefonbuch, doch auch im Darknet kursierten Listen mit Kontaktdaten möglicher Opfer, sagt Juliane Lomb vom Bundeskriminalamt. Wer selbst Anrufe erhält, in dem die Polizei Bargeld verlangt, der solle gleich auflegen und den Notruf wählen. Die Ermittlerin geht allerdings davon aus, dass viele Fälle der Polizei gar nicht bekannt werden.
Opfer zeigen den Betrug aus Scham häufig nicht an
Häufig würden Opfer den Betrug aus Scham nicht anzeigen. Der Schaden, den diese Banden anrichten, ist groß. Im Münchener Fall erbeutete die Bande laut Anklage gut 50.000 Euro. Die Gruppe nahm im November vergangenen Jahres in sieben Fällen Menschen aus Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland ins Visier.
In Engelskirchen hat Heinrich P. den Trick am Telefon nun durchschaut: „Ich konnte wieder klar denken und habe gesagt, ich sei nicht bereit, irgendwas zu zahlen“. Heinrich P. legte auf und wählte die Nummer seines Sohnes: Alles sei bestens, die Tochter längst wieder zuhause in Köln, warum er denn anrufe? (mit dpa)
Betrug auch per WhatsApp und SMS
7800 Telefonnummern hat die Bundesnetzagentur von Januar bis Ende August dieses Jahres deaktivieren lassen, weil Kriminelle sie für Betrügereien benutzt haben. 5900 Nummern wurden für den Enkeltrick über Textnachrichten oder die Anwendung WhatsApp missbraucht, berichtet die Behörde.
Neben Schockanrufen und dem Enkeltrick ist das ein weiteres Betätigungsfeld der Telefonbetrüger. Im gesamten Vorjahr waren es nur rund 1700 Deaktivierungen gewesen, davon 600 wegen Enkeltricks. Bei der Betrugsmasche gibt sich jemand in einer SMS oder Chatnachricht als Familienmitglied oder guter Freund aus und berichtet von einer angeblichen Notsituation, in der er dringend Geld brauche.
Die Behörde mit Sitz in Bonn empfiehlt den Verbraucherinnen und Verbrauchern, solche Nachrichten oder Chatanfragen zu ignorieren. Die Enkeltrick-Abzocke ist keine neue Masche, seit vergangenem November hat sie aber deutlich zugenommen, damals bekam die Netzagentur Hinweise auf das Problem und schaltete im größeren Stil Nummern ab. (lb/dpa)