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Geschichte in OberbergWie eine Hellseherin zu den Opfern eines Familiendramas führte

Lesezeit 8 Minuten
KR PLUS Hellseherin

Ag­ger­tal­sperre in der Glas­ku­gel: Eine Nüm­brech­te­rin erregte 1930 Aufsehen, als sie bei der Bergung von drei Toten Hinweise gab.

  1. Im Mai 1930 wurde auf der Staumauerstraße das herrenlose Auto einer dreiköpfigen Familie gefunden.
  2. Das Kind und die Mutter blieben verschwunden, bis eine Hellseherin hinzugezogen wurde.
  3. Die „Kugelfrau“ aus Geringhausen und ihre scheinbar übersinnlichen Fähigkeiten sorgten in Oberberg für Furore.
  4. Ein neuer Teil unserer exklusiven Serie zur Geschichte in Oberberg.

Gummersbach – Die Aggertalsperre war erst seit einigen Monaten fertiggestellt, als ein trauriges Ereignis mit einem seltsamen Nachspiel großes Aufsehen in der oberbergischen Bevölkerung verursachte. Am 13. Mai 1930 fanden Passanten am Morgen ein herrenloses Automobil mitten auf der Staumauerstraße. Die nähere Untersuchung des Autos förderte einen Damenhut, eine Handtasche mit fünf Mark und einen Zettel zutage. Darauf der Satz: „Wir liegen zu drei Personen in der Talsperre.“

„Es war ein beschämendes Schauspiel“

Die weitere Erforschung des Innenraumes schien die Botschaft des Zettels zu bestätigen. Führerschein und Zulassung des Opels gehörten einem Kaufmann aus Solingen-Wald. Die polizeilichen Nachforschungen brachten weitere Tatsachen ans Licht: Die dreiköpfige Familie war am Montagnachmittag gemeinsam zu einer Geschäftsreise in Richtung Oberberg aufgebrochen. Die Limousine war zuletzt in Bernberg und Bergneustadt gesichtet worden.

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Ein Taucher im Einsatz im Jahr 1918.

Schon bald berichtete die Engelskirchener Tageszeitung „Bergische Wacht“ von düsteren Erkenntnissen über das Familienleben der drei Toten. Die Frau habe vor mehreren Monaten ihre jüngste Tochter in einem Anfall von geistiger Umnachtung umgebracht. Daraufhin sei sie vorübergehend in eine Heilanstalt eingewiesen worden. Die Bergische Wacht spekulierte in einem Bericht, dass zu der geistigen Erkrankung der Frau eine gravierende finanzielle Notlage der Familie hinzu getreten war und dies der endgültige Auslöser für die Verzweiflungstat gewesen sein könnte.

Die Ertrunkenen tauchten indes nicht wieder auf. Das Geschehen lockte tagsüber Scharen von Neugierigen an die Sperre, die den Fortgang der Sucharbeiten verfolgten, was vom Berichterstatter der Bergischen Wacht heftig kritisiert wurde: „Samstag setzte eine wirkliche Völkerwanderung zu Fuß, Rad und Auto nach der Sperre ein. Es war ein beschämendes Schauspiel, namentlich im Hinblick auf die anwesenden Verwandten der Ertrunkenen.“

„Kugelfrau“ aus Geringhausen half bei der Vermisstensuche

In den nächsten Tagen setzte die Polizei die Suche unvermindert fort. Mit langen Stangen untersuchten die Suchkommandos in Ufernähe mögliche Fundorte – jedoch ohne eine Spur der Vermissten zu finden. Schließlich blieb nichts anderes übrig, als mit einem Taucher nach den Verschwundenen zu suchen. Die Bergneustädter Stadtverwaltung beauftragte die Firma Winter aus Köln-Worringen mit der Suche nach den drei Vermissten.

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Doch nur der Mann wurde schnell gefunden, von den zwei anderen fehlte jede Spur. In ihrer Ratlosigkeit beschlossen die Verantwortlichen schließlich, eine Hellseherin hinzu zu ziehen. Diese Frau war den Angehörigen und den Behörden von einem Mann aus der Nümbrechter Umgebung empfohlen worden. Auf die Frage, ob sie die Lage der Leichen kennen würde, antwortete die Dame bestimmt mit „Ja“. Die damals regional bekannte „Kugelfrau“ aus Geringhausen bei Nümbrecht willigte ein, nach den Vermissten zu suchen, als die Behörde bei ihr anfragte.

„Wir sind gespannt“, merkte die Bergische Wacht in Engelskirchen an und versprach: „Wenn die Frau etwas herauskriegt, wollen wir den Hellsehern und Hellseherinnen in der Gegend um Nümbrecht manches anbieten.“ Und diese Situation sollte tatsächlich eintreten.

Hellseherin führt Taucher zu den Opfern

Am Mittwochmorgen wurde die Hellseherin zur Talsperre gebracht, berichtete die Zeitung. „Sie ging die Sperrmauer einmal entlang und erklärte dann: Da liegt die Leiche des Kindes, festgehalten von Stacheldraht und Gestrüpp. Und da liegt die Leiche der Frau, ebenfalls in Gestrüpp verstrickt und mit Schlamm bedeckt.“ Der erste Tauchversuch erbrachte jedoch keine Ergebnisse.

Energisch korrigierte die Kugelfrau daraufhin den Taucher, der nach der Mittagspause wieder in die Dunkelheit abtauchte. Schließlich konnte er das siebenjährige Kind nach einer halben Stunde an der bezeichneten Stelle trotz schlechter Sicht durch Tasten finden. Die zahlreichen Zuschauer erfasste große Rührung, als der Taucher mit der Leiche des kleinen Kindes aus dem Wasser stieg. „Selbst Männer konnten die Tränen nicht zurückhalten angesichts des unschuldigen Opfers eines furchtbaren Familiendramas“, registrierte der Berichterstatter.

Beim nächsten Tauchgang stieg die Hellseherin mit in den Kahn. Wiederum gab sie genaue Anweisungen, wo die Leiter an der Mauer zu platzieren und die Leiche zu finden sei. Und tatsächlich, die Leiche der Frau konnte noch vor dem Abend geborgen werden. Die Leichname wurden in die bereit stehenden Särge gelegt und am nächsten Tag nach Solingen überführt.

Engelskirchener Redakteur zweifelte an „übersinnlichen Fähigkeiten“ der Frau

Das Drama an der Aggertalsperre war noch lange Gesprächsthema, zumal die „Kugelfrau“ durch ihre Hinweise zur Lösung des Problems entscheidend beigetragen zu haben schien. Nach der ersten Verblüffung über die Treffsicherheit der hellsichtigen Nümbrechterin, die zum Auffinden der Leichen geführt hatten, setzte Nachdenklichkeit beim Redakteur der Bergischen Wacht, Edmund Schiefeling, ein. Konnte es sein, dass die der Kugelfrau angedichtete hellseherische Begabung nur darauf beruhte, dass sie die eigentlich für alle zugänglichen Daten logisch miteinander kombinierte und auf dieser Methode ihre übernatürlichen erscheinenden Voraussagen beruhten?

Aber nicht nur der Engelskirchener Redakteur meldete Zweifel an der übersinnlichen Hilfe der Hellseherin beim Auffinden der Leichen an. Der Korrespondent der Rheinischen Zeitung aus Köln wandte Stirn runzelnd ein: „Unserer Auffassung nach gehörte dazu allerdings nicht viel Phantasie, da man nach dem Stande des Autos und dem Fundort des Mannes darauf schließen konnte, daß auch Frau und Kind in nächster Nähe liegen mußten.“

Edmund Schiefeling stand zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Eindruck des unmittelbaren Erlebnisses der durch die Kugelfrau gesteuerten Auffindung. Deshalb wollte er sich, obgleich verunsichert, nicht der Meinung der Rheinischen Zeitung anschließen. Es liege „anscheinend mehr vor als eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Rätselhaft bleibt die Sache, aber sicher ist nichts!“

Kriminalpolizei widerlegt in anderem Fall Aussagen der „Kugelfrau“

Der Tod eines Wiehler Studenten bot einige Zeit später den Anlass zu weiteren Prophezeiungen. Denn nach ihrer erfolgreichen Lokalisation der drei Leichen in der Aggertalsperre wandten sich auch andere Personen wegen vermisster Personen an die Hellseherin. So die Eltern eines Studenten, der spurlos verschwunden war. Die Hellseherin sah in ihrer Kugel, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen und beraubt worden sei.

Einige Tage später wurde die Leiche des Studiosus in Köln gefunden. Die Kriminalpolizei nahm Ermittlungen auf und kam zu dem Ergebnis, dass eindeutig Selbstmord vorlag. Man sah sich zu einer amtlichen „Richtigstellung“ genötigt, um den Prophezeiungen der Kugelfrau entgegen zu treten: „Es ist ärztlich einwandfrei festgestellt worden, dass an der Leiche keine Merkmale oder Wunden vorhanden waren, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen.“ Auch die vorhergesagte Beraubung des Opfer konnte ausgeschlossen werden.

„Vielleicht hat sie nächstes Mal beim Rätselraten mehr Glück“

Anfang November 1930 wurde eine Frau aus Vollmerhausen vermisst und auch nach intensivem Suchen in der Agger nicht aufgefunden. Wieder holte man die Kugelfrau aus Nümbrecht herbei. Aber sie „konnte mit ihrer Hellseherei nichts anfangen; an dem Ort, an dem nach ihren Angaben die Leiche liegen sollte, wurde sie nicht gefunden“, berichtete die Bergische Wacht. Mehrfach wurde auf Geheiß der Kugelfrau der Stauteich der Mühlenthaler Spinnerei in Dieringhausen abgelassen. An der tiefsten Stelle sollte die Frau liegen, „festgehalten vom Gestrüpp, mit dem Gesicht nach unten“. Doch die Suche blieb dort ohne Erfolg.

Einen Tag später konnten die Suchtrupps die Leiche bergen. Allerdings lag sie im Stauteich des Kreiselektrizitätswerkes in Dieringhausen. Als ein weiterer Fehlgriff der Kugelfrau erwies sich später ihre Prophezeiung, die Staumauer der Aggertalsperre würde demnächst brechen und eine große Flutwelle das obere Aggertal verwüsten.

Eines hämischen Kommentars konnte sich Edmund Schiefeling ob der Fehlprophezeiungen am Ende nicht enthalten: „Vielleicht hat sie aber nächstes mal bei ihrem Rätselraten, das jeder andere ohne Glaskugel ebenso gut könnte, mehr Glück und dann werden ihre Aktien im Nümmertschen wieder steigen.“

Wie die Bergung zur Lebensgefahr wurde

Um die Toten in der Talsperre zu finden, wurden fünf lange, mit Eisenstangen beschwerte Holzleitern zusammengesteckt, bis auf den an dieser Stelle 34 Meter tiefen Talsperrenboden abgesenkt und an der Talsperrenmauer befestigt. Der Taucher, der in die dunkle Tiefe absteigen sollte, steckte in einem wasserdichten Anzug und trug einen klobigen Helm. Die Luftzufuhr erfolgte über einen langen Schlauch.

Vier Helfer betätigten eine große Luftpumpe, um die Atemluftzufuhr sicher zu stellen. An Brust und Rücken schleppte der Taucher Bleigewichte mit sich. Zusätzlich trug er Bleisohlen. Über Zugzeichen an einem Tau verständigte er sich mit seinen Helfern im Boot. So ausgerüstet stieg der Taucher von einem Boot aus über eine Leiter in die Tiefe. Schon nach kurzer Zeit war er erfolgreich. Der tote Mann lag in einem Gestrüpp an einem nahen Abhang. Mit einem Ziehen am Signaltau verständigte der Taucher seine Helfer. Nachdem er die Leiche an die Wasseroberfläche transportiert hatte, trugen seine Helfer den Ertrunkenen in den Keller des Talsperrenwärterhäuschens. Von dort wurde er in seinen Heimatort überführt.

Beim zweiten Tauchgang entging der Taucher selbst nur knapp dem Tod. Die lebensgefährliche Situation entstand, als er beim Abstieg einen Abhang herunterrutschte. Dabei verwickelte sich sein Atemschlauch. So wurde die Luftzufuhr zeitweise unterbrochen. Nachdem er mit letzter Kraft aufgetaucht war, war er nicht mehr arbeitsfähig. Danach kam ein neuer Taucher, der Bruder, zum Einsatz.

Doch diesem widerfuhr ebenfalls ein ähnlich gefährliches Missgeschick: Während des Einsatzes versagte plötzlich die Luftpumpe. Glücklicherweise fanden die Techniker schnell die Ursache: Ein Verbindungsschlauch war gerissen. Kurzerhand presste ein Helfer im Boot die beiden Schlauchenden so zusammen, dass ausreichend Atemluft zugeführt werden konnte. Nach zehn Minuten tauchte der Mann wieder auf, ebenso wie sein Vorgänger vollkommen erschöpft. Beide tauchten sonst im Rhein bloß in einer Tiefe von acht Metern. Außerdem setzte das eiskalte Talsperrenwasser ihnen zu.

Der Montag der neuen Woche bereitete eine herbe Enttäuschung, die intensive Suche blieb ohne Erfolg. Die beiden Leichen blieben unauffindbar.

Und fast hätte die Tragödie noch ein weiteres Opfer gefordert. Einem Verwandten, der vermutlich in Folge einer Kriegsverletzung nervenkrank geworden war, hatte das Schicksal der Familie so zugesetzt, dass er versuchte, sich von der Sperrmauer in den Tod zu stürzen. Im letzten Augenblick verhinderte ein Polizeibeamter den Selbstmord. (rup)