Blut, Schweiß und Dreck aus der Westfalenhalle: Corinna Kawczyk aus Gummersbach hütet das 88er Trikot von VfL-Spieler Rüdiger Neitzel als Schatz.
Mein ältester SchatzCorinna Kawczyk aus Gummersbach erkämpfte sich 1988 ein VfL-Trikot
Stickig und laut ist es am Abend des Maifeiertags 1988 unter dem Dach der Dortmunder Westfalenhalle. Die Leute brüllen, klatschen und trampeln – schließlich geht es beim Saisonfinale der Handball-Bundesliga noch um die Krone. Mit Mann und Maus kämpft der VfL Gummersbach auf der Platte um die elfte deutsche Meisterschaft, die die knappste seiner Geschichte werden wird. Von vermeintlichen Experten vor der Spielzeit als Außenseiter ohne Titelambitionen verspottet, sind die VfL-Spieler mit sieben Siegen in Serie gestartet und haben eine tolle Saison hingelegt. Nun reicht ihnen ein einziger Punkt gegen den OSC Dortmund zur Meisterschaft. Doch die Westfalen, die längst als Absteiger feststehen, lehnen die Rolle der Königsmacher ab und geben alles. VfL-Trainer Heiner Brand tobt an der Seitenlinie und dirigiert seine Jungs zur nächsten Attacke auf das Dortmunder Tor.
VfL-Spieler Rüdiger Neitzel hat es der 16-jährigen Corinna angetan
Direkt hinter der Gäste-Bank sitzt der Wiehler Wilfried Hahn mit seiner Tochter Corinna, die drei Jahre zuvor bei Udo Kolpe in Oberwiehl selbst mit dem Handball begonnen hat. Auch die 16-Jährige fiebert an diesem Abend natürlich mit den Oberbergern, vor allem aber suchen ihre Augen in dem Spektakel nach VfL-Spieler Rüdiger Neitzel. Der Recke auf halblinks, in der Liga bekannt für seine durchaus zupackende Art der Verteidigung, hat es Corinna schon seit Jahren angetan. Aber spätestens seit seiner Roten Karte neulich in der Eugen-Haas-Halle ist Corinna völlig hin und weg. Jeder Zeitungsartikel, in dem Neitzel eine Rolle spielt, wird feierlich über dem Bett drapiert, bei den Oberwiehler Mitspielerinnen ist Corinnas Schwärmerei längst Gesprächsthema.
Genau 14 Sekunden vor dem Abpfiff erlöst Kristjan Arason an jenem Abend den VfL-Anhang, der Isländer trifft zum 18:18 ins Dortmunder Tor, der entscheidende Tabellenpunkt ist da. Kurz darauf steckt der VfL-Kader in einer Jubeltraube, auch Rüdiger Neitzel reißt die Arme hoch und rennt auf das Spielfeld – natürlich genau beobachtet von seinem größten Fan. Als die Handballer die erste Überwältigung verdaut haben und zur Bank trotten, rät der Vater: „Schau mal, da vorne steht er. Frag ihn doch mal, ob er dir nicht sein Trikot schenkt.“
In Corinna bricht ein Sturm los, doch tatsächlich steht sie auf, stolpert etwas ungelenk auf Neitzel zu und stellt dem Riesen die entscheidende Frage. Kurz befürchtet sie, das Unterfangen könnte glücklos enden, weil plötzlich ein Junge neben ihr auftaucht und dasselbe will. Doch Rüdiger Neitzel zieht sein Trikot aus, drückt es in Corinnas Hände und sagt zu dem Kleinen: „Ach, lass das doch dem Mädchen.“ Für die 16-Jährige ist es der Abend ihres Lebens, für die Erinnerung daran und den Tipp ist sie ihrem Vater bis heute dankbar.
Nach einigen Wochen wurde das Trikot dann doch gewaschen
Zurück in Wiehl wird das Trikot genauestens inspiziert. Es ist immer noch nass vom Schweiß des Spielers, ist mit dem Dreck des Dortmunder Hallenbodens und allerlei Blutspritzern versehen, und es hat Löcher – aber für Corinna ist es das schönste Stück der Welt. Dass Neitzel gut 25 Zentimeter größer, das Trikot für Corinna also viel zu lang ist – geschenkt. Immerhin kann die Familie sie nach einigen Wochen davon überzeugen, dem heiligen Stück nun doch einmal mit Wasser und Seife zu begegnen. Fortan trägt Corinna die Rückennummer neun auch in der Schule.
Später ergattert Corinna noch die Unterschriften des VfL-Kaders, der 1991 die gesamtdeutsche Meisterschaft holte, und noch viel später – Corinna hat inzwischen geheiratet, trägt den Nachnamen Kawczyk und ist in das Haus der Großeltern auf dem Hepel gezogen – erfährt sie von den Plänen der Blau-Weißen, im Gummersbacher Baumhof die „1861 Sportsbar“ zu eröffnen. Gut geschützt durch einen Rahmen gibt sie ihr Trikot als Leihgabe her, es hängt bis zum vorläufigen Aus der Bar gut sichtbar im Gastraum, bevor der VfL-Vorsitzende Dieter Brüning es persönlich zurückbringt.
Rüdiger Neitzel hat Gummersbach nach der Meisterschaftssaison 1988 übrigens verlassen. Heute ist er Sportmediziner in München, während sein Trikot sauber und gefaltet in einem Kleiderschrank auf dem Hepel lagert. Nur ganz selten tritt Neitzel noch vor die Fernsehkameras, um Handballereignisse zu kommentieren. Aber wenn der Schwarm von damals über die Leinwand flimmert, klopft das Herz von Corinna Kawczyk, inzwischen 52 Jahre alt, immer noch ein bisschen schneller.