Lebensabend in WiehlJoachim Kügler war Staatsanwalt bei den Holocaust-Prozessen
Wiehl – Wer vor den Grabstein auf dem Frankfurter Hauptfriedhof tritt, wird mit einer Anklage konfrontiert. „Sie haben es nicht gewusst, wollen Sie sagen?“ ist darauf zu lesen. Es ist die ungläubige Frage eines Staatsanwalts an einen Mitwisser und Mittäter des Holocausts auf der Anklagebank. Joachim Kügler (1926-2012), der hier bestattet wurde und dem dieses Zitat zugesprochen wird, hatte die Aufgabe des Anklägers im Auschwitz-Prozess Mitte der 1960er Jahre. Seinen Lebensabend verbrachte er von Anfang der 1990er Jahre an in Wiehl. 2012 wurde er zunächst in einem Gummersbacher Armengrab bestattet.
Zur Person
Joachim Kügler wurde am 19. Mai 1926 in Frankfurt am Main geboren, ging dort zur Schule und studierte Rechtswissenschaft. Ab Mitte 1959 war er im Auschwitz-Verfahren bei den Ermittlungen, bei der Verfassung der Anklage und Hauptverhandlung bis zum Urteil am 20. August 1965 tätig. Kügler war auch Sachbearbeiter im Ermittlungsverfahren gegen den KZ-Arzt Josef Mengele. Im Dezember 1965 schied er unmittelbar nach Ende des Auschwitz-Prozesses aus dem hessischen Justizdienst aus, „gegen den mir gegenüber ausdrücklich erklärten Wunsch des Herrn Generalstaatsanwalts Bauer und des Staatssekretärs im hessischen Justizministeriums, Herrn Rosenthal-Pelldram“, wie Kügler später in seinem Lebenslauf schriftlich festhielt. 1965 eröffnete er eine Anwaltspraxis, bis er 1991 in den Ruhestand trat. (tie)
Am Sonntag wird der Holocaust-Gedenktag begangen, es ist der 74. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Wer sich in die Bundesrepublik der ausgehenden 1950er Jahre versetzt, erlebt eine Gesellschaft, in der es kein Gedenken gibt, sondern das Unfassbare verdrängt wird und viele NS-Täter unbehelligt ihren neuen oder alten Aufgaben nachgehen.
Späte Würdigung
Eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach dem Krieg spielten die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Joachim Kügler, der 30 Jahre später seinen Lebensmittelpunkt nach Wiehl verlegen sollte, führte damals die Ermittlungen als Staatsanwalt. Dass an dieser Stelle an ihn erinnert wird, geht auf eine Anregung der Oberbergischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zurück.
Eingesetzt worden war Kügler damals von Fritz Bauer (1903-1968). Biografien und viel beachtete Spielfilme haben in jüngerer Zeit an Bauers Arbeit als Generalstaatsanwalt des Landes Hessen erinnert. Er trug dazu bei, dass Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht wurde, und machte die Frankfurter Auschwitz-Prozesse möglich. Anlässlich seines 50. Todestags nannte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Juristen Bauer „eine der Schlüsselfiguren in der jungen Demokratie, die Deutschland den Rückweg in die Gemeinschaft der Völker der Welt geebnet hat“.
In der deutschen Nachkriegsjustiz war Bauer isoliert gewesen, die Arbeit der Staatsanwaltschaft stieß auf erhebliche Widerstände. Oft wird er mit dem Satz zitiert: „Wenn ich mein Amtszimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland.“
Er hatte aber auch engagierte Mitstreiter: Bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen versicherte er sich der Unterstützung dreier junger Staatsanwälte. Neben Georg Friedrich Vogel und Gerhard Wiese war es Joachim Kügler, der in der Verhandlung die Anklage vertrat. Der Frankfurter Staatsanwaltschaft gelang es, unter anderem den letzten Kommandanten von Auschwitz, Richard Baer, den Lager-Adjutanten Robert Mulka und weitere Auschwitz-Täter ausfindig zu machen.
Als Zeitzeuge bei „Tod auf Raten“
Kügler tritt als Zeitzeuge in einem Film über Fritz Bauer auf, den die Frankfurter Fernsehautorin Ilona Ziok 2010 unter dem Titel „Tod auf Raten“ ins Kino brachte. Kügler erinnert sich darin, wie Fritz Bauer 1959 auf ihn aufmerksam wurde. Ein jüdischer Taxifahrer war von mehreren Leuten bedrängt worden, Kügler vertrat die Anklage in dem Verfahren. „Das habe ich so ganz gut über die Bühne gebracht, die wurden nachher alle verurteilt“, berichtet Kügler. „Und dann hat der Generalstaatsanwalt den Vogel und mich zu sich gebeten und gesagt: Sie machen jetzt Auschwitz.“ Die Filmemacherin Ziok glaubt, dass Kügler auch deshalb von Bauer für diese Aufgabe ausgewählt wurde, weil dessen Eltern nicht als NS-Täter verdächtig waren.
Auch viele Jahre nach dem Prozess spricht Kügler ohne Erregung, aber mit nüchterner Abscheu über den beispiellosen Kulturbruch, den der massenhafte Judenmord darstelle: „Die fabrikmäßige Tötung und Verwertung der Überreste – das hatte noch keiner fertig gebracht.“
Nach 183 Verhandlungstagen endete im August 1965 die „Strafsache gegen Mulka und andere“, wie sie nach Robert Mulka, dem Ranghöchsten der Angeklagten, benannt war, mit sechs lebenslangen Zuchthausstrafen, einer zehnjährigen Jugendstrafe und zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und 14 Jahren. Drei Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Kügler wechselte die Seiten
Trotz dieses juristischen Erfolgs hatte Joachim Kügler aber genug. Denn seiner Auffassung nach waren nur „die Hanswürste der Mordaktion“ verurteilt worden, nicht aber die „prominenten, intellektuell Verantwortlichen“, wie er 1974 in einem Porträt sagte, das ihm die Illustrierte „Stern“ in ihrer Serie über „Deutschland, deine Strafverteidiger“ widmete.
Unmittelbar nach Ende des Prozesses wechselte Kügler die Seiten, eröffnete in Frankfurt eine Anwaltskanzlei und erlangte in den nächsten drei Jahrzehnten in dieser Funktion noch Erfolg und lokale Prominenz. Das belegen die Zeitungsberichte, die 1991 in Frankfurt anlässlich seines Wechsels in den Ruhestand erschienen.
„Unvorstellbare Entsetzlichkeit“
Am 13. Mai 1965 fasst Joachim Kügler am Anfang seines Plädoyers die Auffassung der Staatsanwaltschaft im ersten Auschwitz-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main in der „Strafsache gegen Mulka u.a.“ zusammen: „Die Beweisaufnahme hat mit glasklarer Härte ergeben, daß wir es hier mit einem Mordzentrum von unvorstellbarer Entsetzlichkeit zu tun haben und daß dessen Funktionieren von dem bewußten und gewollten Zusammenwirken der Angeklagten und Tausender anderer abhing. Ihre Untaten waren von so ungezügelter und zugleich sachlich-bürokratisch organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, daß niemand sie ohne tiefe Scham darüber, daß Menschen zu dergleichen fähig sind, überdenken kann. Auschwitz war ein Hohlraum völliger Kulturentledigung. Der Erfolg ihres mörderischen Zusammenwirkens hat bis heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem letzten Atemzug der Opfer, Spuren von einmaliger Intensität hinterlassen.“
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb damals, Kügler wolle sich „auf seinem Alterssitz im Odenwald den Künsten widmen“. Tatsächlich kehrte er Frankfurt den Rücken, sein neuer Lebensmittelpunkt wurde aber nicht der nahe Odenwald, sondern das ferne Wiehl.
1993 meldet er dort seinen Hauptwohnsitz an. Warum es Kügler ins Oberbergische verschlug, ist unklar. Verwandte hat er hier offenbar nicht gehabt. Von einer Liebesbeziehung ist ebenfalls nichts bekannt, Kügler blieb sein Leben lang Junggeselle. Nachdem er in Wiehl zunächst auf der „Dorfkrone“ zur Untermiete lebte, wohnte er am Weiherplatz über der Bäckerei, später in den Weiherarkaden.
Was er hier suchte und fand, war Privatheit. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er zurückgezogen, allerdings war er nicht menschenscheu. Im Bahnhof und anderen Lokalen konnte man ihn beim Bier treffen. Mit seiner bedeutenden juristischen Vergangenheit ging der Neubürger nicht hausieren, einen Bericht in der Zeitung lehnte er ab. Kügler machte daraus aber auch kein Geheimnis, erinnert sich der damalige Stadtdirektor und spätere Bürgermeister Werner Becker-Blonigen. Gerd Franken, damals Geschichtslehrer am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, holte Kügler zweimal als Zeitzeuge in den Unterricht. Zudem war er zu Gast bei Vortragsabenden des dem Gymnasium assoziierten Bonhoeffer-Kreises. Franken erinnert sich an einen einsamen Mann, der am Ende seines Lebens wieder offen war für das Thema Auschwitz.
So gab Kügler der Filmemacherin Ilona Ziok auch ausführlich Auskunft, als sie ihn für ihren Bauer-Film in seinem Wiehler Alterswohnsitz interviewte. Sie erlebte den 80-Jährigen als wachen Gesprächspartner mit präzisen Erinnerungen an die Auschwitz-Prozesse. Über seine persönlichen Umstände erfuhr Ziok allerdings ebenfalls nur wenig. Dass er zunehmend verarmte, habe mit der teuren Behandlung seiner altersbedingten Krankheiten zu tun gehabt, glaubt Ziok. Im Juli 2012 zog Joachim Kügler noch in die Seniorenresidenz am Denklinger Burgberg um. Mitte Dezember wurde er ins Gummersbacher Krankenhaus gebracht, wo er am ersten Weihnachtstag verstarb.
Joachim Kügler hatte am Ende keinerlei Vermögen mehr. Da sich keine Angehörigen identifizieren ließen, die für sein Begräbnis hätten aufkommen können, wurde er, wie in solchen Fällen üblich, auf Kosten der Stadt Gummersbach auf dem Grotenbach-Friedhof in einem anonymen Urnengrab beigesetzt.
Umbettung nach Frankfurt
Als Ilona Ziok davon erfuhr, erinnerte sie sich, dass es Küglers Wunsch gewesen war, in Frankfurter Heimaterde begraben zu werden. In Ardi Goldman, einem am Main ansässigen Immobilienunternehmer mit jüdischen Wurzeln, fand sie einen Sponsoren für ihr Vorhaben. Goldman finanzierte ein Ehrengrab auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. 2015 erfolgte die Umbettung, die Goldman auf dem Internetportal „in memoriam Joachim Kügler“ dokumentiert hat.
Der Beisetzung der Urne ging eine Gedenkfeier in der Trauerhalle des Hauptfriedhofes voraus, an der über hundert Personen teilnahmen. Neben Ardi Goldman würdigten der ehemalige hessische Staatsminister Rupert von Plottnitz, Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut und Harry Schnabel, Gemeindevorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Küglers Rolle im Auschwitz-Prozess. Von Plottnitz unterstrich die Beharrlichkeit, mit der Kügler für die Anerkennung all derer kämpfte, die in Auschwitz der Barbarei der Nazis zum Opfer gefallen waren: „Dies bleibt sein großes rechtshistorisches und rechtsstaatliches Verdienst.“