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„Permanent abwägen“Justizminister Peter Biesenbach über Umgang mit Recht in der Krise

Lesezeit 8 Minuten

Peter Biesenbach (CDU), Justizminister von Nordrhein-Westfalen

Oberberg – Peter Biesenbach (73) aus Hückeswagen war im Herbst der erste NRW-Minister in Quarantäne. Vom aktuellen Fall seines Kollegen Herbert Reul blieb er unbehelligt, weil er im Landtag weit entfernt saß. Frank Klemmer sprach mit dem Justizminister über die Auswirkungen und das Rechtssystem.Bevor Sie Justizminister geworden sind, haben Sie viele Jahre als Anwalt gearbeitet und die Rechte von Mandanten verteidigt. Wie erleben Sie es jetzt, wenn Grundrechte so eingeschränkt werden?Peter Biesenbach: Da muss ich ein bisschen ausholen. Das Bundesverfassungsgericht sagt ja in seiner ständigen Rechtsprechung schon lange, dass Grundrechte nicht nur Abwehrrechte sind. Natürlich schützen sie den einzelnen Bürger vor Eingriffen des Staates. Aber es ist eben heute auch unumstritten, dass der Staat auf der anderen Seite auch Schutzrechte gewähren muss. Es gibt einen verfassungsrechtlichen Auftrag des Staates zum Schutz von Leben und von körperlicher Unversehrtheit. Egal ob ich heute als Justizminister auftrete oder als Anwalt: Ich muss permanent abwägen, was gerade überwiegt. Aktuell ist die Gefahr, dass wir körperliche Unversehrtheit oder Leben riskieren, größer.

Die Abwägung fällt sehr eindeutig aus. Wundert es Sie vielleicht nicht sogar mehr, wie wenig gegen Eingriffe geklagt wird und wie wenig tatsächlich von Gerichten kassiert wurde?

Biesenbach: Nein, ich wundere mich nicht, weil wir eine ungemein breite Akzeptanz in der Bevölkerung für die Maßnahmen haben. Zudem räumt uns die Rechtsprechung die Möglichkeit ein, dass wir dort, wo wir noch über wenig Fakten verfügen, erst einmal unterstellen, Gefahren abwehren zu müssen. Kassiert haben Gerichte Maßnahmen nur, wenn unklar war, was verboten ist – zum Beispiel bei der Maskenpflicht in der Düsseldorfer Altstadt, bei der nicht klar war, wo die Pflicht beginnt und wo sie endet.

Alles was Recht ist

Selten standen Rechte so im Fokus des öffentlichen Interesses wie jetzt im Lockdown während der Pandemie: Darf der Staat mir wirklich das alles verbieten? Darf er bestimmen, dass ich zu Hause bleiben muss? Und wie will er das alles kontrollieren?

Doch nicht nur in der Corona-Krise bestimmen Recht und Gesetz das öffentliche Leben. Auch in Oberberg gibt es dabei ganz verschiedene Persönlichkeiten, die diesen Bereich prägen und als Juristen in verschiedensten Rollen auftreten: als Anwälte, als Richter, aber auch in der Politik.

Wie passt das zusammen? Wie trennen sie ihre Rollen? Wo verbinden sie beides? Und nicht zuletzt: Wie nehmen sie die aktuellen Entwicklungen rund um die Krise wahr? Das sind die Themen, über die wir mit einigen dieser Persönlichkeiten in unserer neuen Interview-Reihe „Alles was Recht ist“ sprechen möchten. (kmm)

Es gab aber auch Urteile, als die Mittel so milde waren, dass die Gerichte gesagt haben: Damit könnt Ihr ja gar nichts erreichen.

Biesenbach: Ja, natürlich. Wir haben immer zu fragen: Ist ein Mittel erforderlich, angemessen und verhältnismäßig? Wenn ich ein Mittel anwende, dass nicht geeignet ist, das Ziel zu erreichen, dann wird das dem genau so wenig gerecht, wie wenn ich zu viel verlange. Spannend ist es, wenn sich die Lage verändert. Auch unser Verfassungsgericht in NRW sagt: Politik muss jederzeit überprüfen, ob Maßnahmen wirksam sind. Je länger eine Schutzmaßnahme dauert, umso intensiver müssen wir begründen, dass diese noch notwendig ist. So wie jetzt: Da muss genau begründet werden, was trotz sinkender Zahlen wegen der Verbreitung von Mutanten weiter notwendig ist. Wenn wir deren Gefährlichkeit belegen können, ist das ein Argument.

Bestimmte Maßnahmen müssen einem aber auch erst einmal einfallen. Was geht in einem vor, wenn man über einen 15 Kilometer Radius zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit nachdenkt?

Biesenbach: Ich wäre vorher nie auf die Idee gekommen, dass solche Maßnahmen notwendig sind. Ich bin immer davon ausgegangen, Vernunft hilft und man übt freiwillig Verzicht. Ich hätte mir nicht vorstellen könne, dass wir so viele leichtfertige Mitbürgerinnen und Mitbürger haben, die zum Beispiel sagen: „Ich fahre einfach“ – zum Beispiel – „nach Winterberg.“

Und deshalb mussten Sie solche Maßnahmen erfinden?

Biesenbach: Jede Einschränkung tut weh. Nur wenn ich an die zahlreichen Gespräche und Debatten der letzten Wochen denke, wenn ich sehe, was ich in den vergangenen Wochen bei Spaziergängen rund um die Wupper-Vorsperre beobachtet habe, wie wenige sich wirklich um die Regeln kümmern, kann ich nur fragen: Liest denn keiner die Nachrichten? Hört niemand die vielen Berichte? Oder wollen so viele Menschen die Gefahr einfach nicht wahrhaben? Das ärgert mich, es macht mich aber auch ein Stück weit ratlos.

Das Kabinett war davon ja auch selbst betroffen. Bei den 15 Kilometern ging es um Ihr Oberberg, aber auch um den Kreis Höxter, wo der Gesundheitsminister herkommt. Ändert das den Blickwinkel?

Biesenbach: Am liebsten hätte ich mit jedem selber geredet, es ihm erklärt, ihn dafür gewonnen. Und am Ende muss es trotzdem wieder per Verordnung geregelt werden. Das geschieht nicht mit Lust, sondern eher aus einer traurigen Einsicht heraus. Erst recht wenn es die Heimat betrifft.

Wie nehmen Sie die Debatte um die Grundrechte wahr? Kann man das immer ernstnehmen? Oder spürt man manchmal auch einen gewissen Zynismus?

Biesenbach: Ich habe im Bekanntenkreis viele Familien mit kleineren Kindern, auch in größeren Städten. Wir können sehr froh sein, dass wir bei uns im Bergischen viel Grün haben. Hier ist es den Familien möglich, mit ihren Kindern die Natur zu genießen. Eine solche Gelegenheit ist in größeren Städten seltener. Aber auch hier gibt es viele Familien, die mit Kindern in verhältnismäßig kleinen Wohnungen leben. Wenn Kinder sich nicht bewegen können, kann ich nachempfinden, zu welchen Spannungen es in den Familien kommen kann. Von denen höre ich aber ganz oft nur: „Mensch, die Kinder müssen in die Schule!“ Von ihnen habe ich noch nicht gehört: „Unsere Grundrechte werden beeinträchtigt.“ Wenn ich andere höre, die anders wohnen und die klagen „Mein Grundrecht muss mir die Möglichkeit geben, eine Party zu feiern“ oder „Ich will wieder raus“, dann empfinde ich schon einen gewissen Zorn. Grundrechte sind Abwehrrechte, keine Privilegien.

Haben Sie den Eindruck, dass es ruhiger um diese Rechte geworden ist? Hat die Explosion der Fallzahlen im Winter da etwas verändert?

Biesenbach: Das war sicher so. Im Moment habe ich aber eher den Eindruck, dass es wieder auseinanderdriftet. Ich bin ja groß geworden in einer Zeit, wo Verzicht an der Tagesordnung war. Die Generationen meiner Eltern und meiner Großeltern sind stark von Solidarität geprägt gewesen. Ich habe im Moment den Eindruck, dass wir von Solidarität sehr viel weiter weg sind.

Woran machen Sie das denn fest?

Biesenbach: Zum Beispiel an der Debatte über die Beschaffung des Impfstoffes. Wenn ich erlebe, wie immer nur nach Fehlern gesucht wird, erlebe ich das als sehr demotivierend. Wir würden die Situation für uns erträglicher machen, wenn wir die Diskussion führen würden: Wer kann was tun? Wer kann zum Beispiel dafür sorgen, dass Kinder betreut werden, wenn Eltern mal weniger Zeit haben? Es gab ja die Beispiele, aber darüber spricht keiner. Das finde ich schade. Jemand hat mal gesagt: Wir bräuchten einen Jürgen Klopp zur Motivation der Gesellschaft, der dafür sorgt, dass alle an einem Strang ziehen.

Die Suche nach Fehlern ist das eine. Andererseits hören wir von den Verantwortlichen meines Erachtens viel zu oft, sie seien nicht zuständig. Ist die Pandemie auch ein Brennglas für die Schwächen der sonst so sinnvollen Aufgabenteilung in unserem Staat?

Biesenbach: Ich glaube, dass wir ohne dieses dezentrale Element nicht in der Lage wären, handlungsfähig zu sein. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass von Berlin aus die Impfaktionen bundesweit durchgeführt werden könnten.

Haben Sie eigentlich eine Erklärung dafür, warum Oberberg Anfang Januar so sehr zum Hotspot geworden ist?

Biesenbach: Nein, ich muss zugeben, dass ich abends immer gerne nach Hause gefahren bin, weil ich wusste, dass in meiner direkten Umgebung die Zahlen relativ gering sind. Warum wir dann plötzlich so hochschossen, habe ich nicht nachvollziehen können – und kann es bis heute nicht.

Welche Rolle spielen die Gottesdienste? Lange Zeit war Oberberg ja die einzige Region in NRW mit einem echten Verbot für religiöse Präsenzveranstaltungen.

Biesenbach: Wir haben tatsächlich intensiv darüber nachgedacht, ob das Verbot nicht früher hätte ausgesprochen werden müssen. Auf Landesebene haben wir darauf verzichtet, weil die großen Kirchen von selbst Verpflichtungen auf sich genommen haben. Es waren dann vor allem freikirchliche, aber auch kleinere Gemeinden, die nicht mitgemacht haben. Da kam wieder die Frage auf: Müssen wir das verbieten? Am Ende haben sich die meisten daran gehalten. Und bei denen, die sich nicht daran hielten, gab es eben auch Einsätze von Ordnungskräften – wie bei einigen freikirchlichen Gemeinden in Ostwestfalen.

Unvorstellbar eigentlich, dass wir heute überhaupt über Gottesdienstverbote so einfach sprechen können, oder?

Biesenbach: Aber nur als Ultima Ratio dort, wo Gläubige wirklich jede Schutzmaßnahme missachten. Wenn ich freikirchliche Gemeinden habe, bei denen sich 100 Menschen in einem kleinen Saal treffen, ohne Maske, ohne Abstand und dann laut singen, dann gibt es auch keine Alternative zum Verbot, wenn ich nicht riskieren will, dass dort wieder ein Hotspot entsteht.

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Was meinen Sie? Wie geht es weiter mit unseren Grundrechten?

Biesenbach: Wir verspüren alle eine große Corona-Müdigkeit, Ungeduld und Aufbruchswillen. Doch bessern wird es sich frühestens mit zunehmenden Impfstoffen in den nächsten Wochen und Monaten. Niemand hat eine Blaupause für eine Pandemie dieser Dimension. Auch wir politisch Verantwortlichen lernen jeden Tag dazu. Wir befinden uns ständig im ethischen Dilemma zwischen Schaden und bitterer Konsequenz. Ich bin aber sicher: Wir werden die Herausforderung schaffen, wenn alle mitmachen – mit Geduld, Disziplin und Optimismus. Wie hat ein Kommentator so schön geschrieben? Das Glas ist halbvoll.