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„Alle meine Freunde verloren“Ukrainische Jugendliche über ihren Neuanfang im oberbergischen Exil

Lesezeit 4 Minuten
Zwei geflüchtete Familien aus der Ukraine sitzen an einem großen Tisch im Zentrum des Caritas-Verbandes in Gummersbach.

Die ukrainischen Geflüchteten berichten über die letzten Wochen und Monate, in denen sie ihre Heimat zurücklassen, und im Oberbergischen Kreis eine neue finden mussten.

Im Begegnungszentrum des Caritas-Verbandes in Gummersbach lassen die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine die letzten Monate Revue passieren.

Am Silvesterabend im vergangenen Jahr steckte Wolodymyr voller Pläne, da wurde laut und fröhlich gefeiert, alle wünschten einander Glück im neuen Jahr. Da war sein Zuhause noch in Ordnung in der kleinen ukrainischen Stadt bei Cherson, vier Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Jetzt zuckt der 15-Jährige auf die Frage, was er sich für 2023 vorgenommen hat, ratlos die Schultern und blickt Hilfe suchend seine Mutter an. Pläne? „Wir haben kein Haus mehr. Wir können nicht zurück“, sagt er leise.

„Der Krieg hat uns gelehrt, von Tag zu Tag zu leben“, ergänzt seine Mutter Olena Perepelytsia. „Wir haben an einem einzigen Tag alles verloren, unser Haus, unser Land, unsere Zukunft. Wir sind ins Nirgendwo gefahren.“ Und sind in Bergneustadt angekommen, vier Kinder und die Eltern, Wolodymyr ist der Älteste. Fast zehn Monate ist das her, sie gehörten zu den ersten Geflüchteten aus der Ukraine, die in Oberberg ankamen.

Gummersbach: Jugendliche aus der Ukraine berichten von Neuanfang in Deutschland

Die Erlebnisse sind für sie noch so lebendig, als wäre es gestern gewesen, als die zwölfjährige Kristina um vier Uhr morgens ihren großen Bruder aus dem Schlaf riss: „Steh auf, es ist Krieg! Wir müssen hier weg!“, habe sie gerufen. „Ich dachte in dem Moment nur, dass ich nicht zu meinem Gymnastikkurs gehen kann“, erzählt sie, und Wolodymyr weiß noch genau, wie schlimm er es fand, dass er sein Akkordeon zurücklassen musste, während die Bomben fielen. „Wir haben uns alle sechs ins Auto gequetscht, dazu die Katze und den Hund“, erzählt ihre Mutter, während die Gummersbacherin Valentyna Butulay, die aus der Urkraine stammt, übersetzt.

Mit einer anderen Familie haben sie sich im Caritas-Begegnungszentrum „Mittendrin“ in Gummersbach getroffen, tauschen sich aus zwischen Säcken und Paketen mit Hilfsgütern, die für einen Transport bestimmt sind, finden hier ein Stück Heimat im anderen Land, das ihnen bei aller Dankbarkeit für die große Hilfsbereitschaft immer noch fremd ist. Wer kann in der oberbergischen Sicherheit nachempfinden, wie es ist, zehn Tage lang im vollgestopften Auto von Grenzübergang zu Grenzübergang zu irren beim verzweifelten Versuch, aus der Ukraine zu flüchten?

Der dreijährige Amirkhan, Wolodymyrs und Kristinas kleiner Bruder, hat seitdem kein Wort mehr gesprochen. „Bis dahin war er ein ganz normales Kind“, Mutter Olena ist zutiefst besorgt. Die Geschwister versuchen den Kleinen mit Handyvideos zum Lachen zu bringen. Vergeblich. Einzig Amira, die siebenjährige Schwester, malt fröhlich Buchstaben auf das große Whiteboard vom Sprachkurs. Sie ist stolz, dass sie in die erste Klasse geht und Deutsch lernt. „Traurig bin ich nur, dass wir den Hund und die Katze dann doch an der Grenze zurücklassen mussten. Die hatten leider keinen Pass.“

Ukrainerin Liia wünscht sich nur eins: „Der Krieg soll zu Ende sein.“

Für die älteren Kinder ist der Neuanfang schwerer. Während die zwölfjährige Kristina versucht, beide Welten zu vereinbaren, indem sie im deutschen Verein Handball spielt und im Begegnungszentrum ukrainische Volkstänze übt und sowohl deutsche wie ukrainische Freundinnen hat, sucht die gleichaltrige Liia ausschließlich Kontakt bei den ukrainischen Kindern im Sprachvorbereitungskurs ihrer Schule. „Ich habe alle meine Freunde verloren“, sagt sie leise. „Zuerst haben wir noch mit dem Handy geschrieben. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, wo sie sind.“ Vielleicht geblieben im zerstörten Haus, vielleicht geflüchtet wie sie selbst.

Mit ihrer Mutter Karyna Arutiunian, der 82-jährigen Oma und dem dreijährigen Bruder Rodion ist sie zu Fuß über die Grenze nach Russland gelaufen, bis sie mit einem Zug Georgien erreicht haben und von Helfern nach Oberberg geholt wurden. Wie es Liia geht? Sie hat Heimweh. Überwältigendes Heimweh. Und überhaupt keine Pläne. „Hier ist es gut. Aber ich habe trotzdem Heimweh, ich weiß nichts, gar nichts mehr“, sagt sie leise.

Es ist die unsichere Zukunft , die auch Wolodymyr zu schaffen macht. Inzwischen hat er ein neues Akkordeon bekommen, aber die richtige Begeisterung will sich nicht einstellen. Morgens in der Bergneustädter Hauptschule zu lernen, und nachmittags online den ukrainischen Lehrstoff zu pauken – da bleibt kaum Zeit für neue Freundschaften. Und mit welcher Perspektive? Hier bleiben? Oder doch eines Tages zurückkehren? „Unsere Stadt existiert nicht mehr. Wir sind verstreut in der ganzen Welt“, sagt er auf Deutsch. „Wir warten ab“, meint seine Mutter.

Was sich die Jugendlichen wünschen fürs neue Jahr? „Den Sieg der Ukraine!“ Da zögert Wolodymyr keinen Augenblick, während seine Schwester Kristina „so schnell wie möglich Deutsch lernen“ möchte und es für Liia nur einen Wunsch gibt: „Der Krieg soll zu Ende sein.“