In den vergangenen sieben Wochen ist die Zahl der Kinder, die mit Infekten zum Arzt kommen, im Oberbergischen enorm angewachsen. Säuglinge und kleine Kinder sind besonders betroffen.
„Wir arbeiten am Limit“Kinderarztpraxen in Oberberg sind übervoll
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein meldet „Dauerstress in den meisten Arztpraxen des Rheinlandes“. Vor allem die haus- und kinderärztlichen Praxen würden zurzeit von Patientinnen und Patienten aufgesucht, die an akuten Atemwegserkrankungen leiden. „In NRW trifft es dabei insbesondere Kinder und Jugendliche überproportional – hier sorgt unter Neugeborenen und Kleinkindern das RS-Virus für viele Erkrankungen. In der Altersgruppe der Fünf- bis 14-Jährigen zirkulieren in erster Linie Influenzaviren.“
Welle ist keine Überraschung
Dr. Björn Hoffmann, Obmann des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte im Oberbergischen Kreis, kann das bestätigen: „Auch wir sehen in unseren Praxen seit sechs, sieben Wochen eine immens hohe Zahl an Kindern, die mit Infekten zu uns kommen.“ Wie stets bei solchen Wellen seien Säuglinge und kleine Kinder bis zum Alter von fünf oder sechs Jahren besonders betroffen. „Sie haben häufig noch nicht so viele Atemwegsinfektionen durchgemacht, das Immunsystem ist noch nicht so versiert in der Abwehr von Atemwegserregern.“
Eine Überraschung sei die Welle nicht, zwischen Oktober und März halte man sich eben mehr drinnen auf. „Wir sind enger beieinander, haben weniger Belüftung und es gibt per se in den Wintermonaten mehr Atemwegsinfekte“, erklärt Hoffmann.
Immunsystem etwas aus dem Training
Aktuell komme womöglich dazu, dass das Immunsystem durch Lockdowns, Maskentragen und Distanzbeschränkungen „ein bisschen aus dem Training ist“. Das Immunsystem von Kindern bis zwei Jahren sei aus denselben Gründen noch gar nicht so richtig trainiert. Viele kranke Kinder, (zu) wenige Kinderärztinnen und Kinderärzte in Oberberg – kein Wunder, dass die Praxen übervoll sind.
Dasselbe Bild im kinderärztlichen Notdienst: „Ich habe in 2021 im vierten Quartal sieben Notdienste gemacht und da ungefähr 150 Kinder gesehen“, sagt Hoffmann. „Ich habe in diesem Quartal, also ein Jahr später, bislang drei Notdienste gemacht und jetzt schon 140 Kinder gesehen.“ Während an einem normalen Arbeitstag 30 bis 40 Eltern, so schätzt Hoffmann, von seinen Mitarbeiterinnen gleich am Telefon darauf hingewiesen werden, dass mit den geschilderten Beschwerden ein Besuch der Kinder in der Praxis nicht notwendig ist, gibt es solche Vorgespräche im Notdienst nicht. „Da kommt jeder Patient einfach hin mit dem Anspruch, auch gesehen zu werden, ob er die Kriterien eines Notfalls erfüllt oder nicht.“
Nicht rund um die Uhr für kleine Befindlichkeiten da
Aber der kinderärztliche Notdienst könne nicht rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr für jede kleinere Befindlichkeit da sein, sagt der Obmann der Kinder- und Jugendärzte. „Wir möchten die versorgen, die das wirklich brauchen. Aber immer alles und sofort machen – das müssen die Eltern auch lernen – das können wir nicht leisten.“
Unterstützung gewünscht Eltern sollten auf ihr Bauchgefühl hören, sagt Hoffmann: Wissenschaftlich sei nachgewiesen, dass sich Mütter sehr gut auf ihr Gefühl verlassen können.
Wer ist ein Notfall und wer nicht?
Was wäre im Notdienst eine Lösung? Eine kinder- und jugendarzt-kompetente medizinische Fachangestellte, zum Beispiel, oder eine erfahrene Kinderkrankenschwester, die vorab selektiert, wer wirklich ein Notfall ist und wer nicht. „Aber das ist nicht vorgesehen.“ Die Vielzahl der Fälle in seiner Praxis hat für Dr. Björn Hoffmann auch einen abrechnungstechnischen Aspekt: „Was uns fuchst, ist, dass wir einen Teil unserer Leistungen nur noch mit Abschlägen oder überhaupt nicht mehr honoriert bekommen.“
Oder der Arzt zahlt sogar drauf – weil er das Personal weiterbezahlt und seine Apparate weiter betreibt. So gesehen hätte Kinderarzt Björn Hoffmann seine Praxis in Hückeswagen schon Ende November zumachen können. „Wir behandeln natürlich weiter, weil wir wissen, dass wir die Eltern und die Kinder nicht hängen lassen können.“
Doppeldienst
Ein Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung kam im Kreise der Kinderärzte nicht gut an. Der Obmann der oberbergischen Kinder- und Jugendärzte, Dr. Björn Hoffmann, spricht von einem „Witz in Tüten“. Er meint damit den Vorschlag, Kinderärztinnen und Kinderärzte sollten wegen der großen Belastung die kinderärztlichen Notdienste doppelt besetzen, zumindest in den Stoßzeiten. „Wir arbeiten in unseren Praxen am Limit. Wir machen mehr Vorsorgeuntersuchungen als vor zehn, 20 Jahren. Wir betreuen die Flüchtlingskinder und die unbegleiteten jugendlichen Flüchtlinge seit 2015, wir haben jetzt die ukrainischen Kinder. Und jetzt kommt die KV auf die Idee und fragt, ob wir Dienste nicht doppelt besetzen wollen.“
Dann müssten alle doppelt so oft Notdienst machen und noch mehr arbeiten, so Dr. Björn Hoffmann: „Da ist mir die Hutschnur geplatzt.“ Im Nachgang gab es darum ein Gespräch mit dem KV-Vorstand. „Die fanden unsere Zurückweisung ganz erstaunlich“, so Hoffmann. Jetzt will die KV schauen, ob sich im Pool der nicht oder nicht mehr niedergelassenen Ärzte welche finden, die den Notdienst unterstützen.