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Von der Mutter zum Sex verkauftWorte von Michel Friedman retteten Ayla D. das Leben

Lesezeit 6 Minuten
Missbrauch Rückenfoto

Ayla D. lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in  einer Stadt in Nordrhein-Westfalen.

  1. Ayla D.s Adoptivmutter arbeitete als Prostituierte. Das Mädchen wurde über Jahre missbraucht.
  2. Heute lebt Ayla D. mit ihrem Mann und vier Kindern in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen. Sie sagt, sie komme mit ihrem Leben meistens gut klar. Nach dem, was sie erlebt hat, ist das eine enorme Leistung.
  3. Jetzt hat sie den Mut, ihre Geschichte zu erzählen.

Sie habe früh gewusst, welchen Beruf ihre Adoptivmutter ausübt, habe sich aber anfangs nichts Genaues darunter vorstellen können, sagt Ayla D. „Sie hat erzählt, dass sie ihren Körper verkauft. Sie war wohl auch stolz darauf, weil sie damit viel Geld verdient hat.“ In einer ruhigen Ecke einer Bäckerei im Niederrheinischen erinnert sich Ayla D. an eine empathielose Frau, die oft zuschlug und wohl „selbst schwer traumatisiert war. Ihr Bruder habe sie vergewaltigt, hat sie mal erwähnt“. Sie erinnert sich an Tage in einem versperrten Kellerraum und das abendliche Klicken der Haustür, wenn die Adoptivmutter, die sie nur „die Frau“ nennt, bei der Arbeit war. Männer, die ins Kinderzimmer kamen. Vergewaltigungen. Angst. Scham. Die Frage, warum jeder mit ihr machen durfte, was er wollte. Keine Antwort, auch nicht auf die Frage: Wofür lebe ich?

Geboren wird Ayla D., die eigentlich anders heißt, als Tochter nordafrikanischer Eltern in Paris. Als der Vater im Rotlichtviertel Pigalle eine deutsche Prostituierte kennenlernt, verlässt er seine Frau und zieht mit der Neuen und seinen zwei Töchtern nach Deutschland. Die Verbindung hält nur kurz, der Vater verschwindet. Ayla und ihre Schwester sind jetzt Pflegekinder. Jahre später willigt der Vater in die Adoption ein.

Als Kind nässt Ayla ins Bett und schreit in der Nacht. Als Teenager wird sie magersüchtig und depressiv. Mit zwölf beginnt sie zu kiffen. Ritzt sich. Stottert. Fantasiert. Vermutlich hat sie zu diesem Zeitpunkt längst dissoziative Störungen – Bewusstseinsabweichungen, um den Alltag bewältigen zu können. Später werden die Dissoziationen als Folge des sexuellen Missbrauchs diagnostiziert.

Missbrauch Flasche

Eine Flaschenpost an Michel Friedman. Seine Sätze im Fernsehen hätten ihr damals das Leben gerettet, sagt sie.

Mit 15 geht Ayla D. zum Jugendamt, verschweigt aber den Missbrauch. Es werden ein weitere Gespräche vereinbart, der Sozialarbeiter lädt auch die Frau ein und erklärt ihr, wie gefährdet Ayla sei. Gegenüber dem Angestellten zeigt sich die Adoptivmutter besorgt, zu Hause verspottet sie das Mädchen.

In der Schule sagt Ayla, dass sie zu Hause große Probleme habe. Eine Klassenlehrerin gibt ihr Telefonnummern von Mädchenwohngruppen – Ayla ruft nicht an, sie traut sich nicht, hofft, die Lehrerin tue es für sie.

Ayla D. sagt, sie sei eine gute Schülerin gewesen. „Ich habe versucht, zu kompensieren, was ich erlebt habe, das Essen zu kontrollieren und die Hausaufgaben.“ Wenn ein Lehrer fragt, warum die Mutter nicht zur Theateraufführung am Samstagnachmittag in der Schule komme, sagt sie, sie sei beim Friseur.

„Nuttenkind! Nuttenkind!“, rufen die Kinder sie jetzt.

Zwölf sei sie gewesen, als ein Schüler sie in der Pause fragt, was ihre Mutter fürs Blasen und Ficken nehme? „Er hatte sie im Eros-Center gesehen. Das hat dann in der Schule die Runde gemacht.“ „Nuttenkind! Nuttenkind!“, rufen die Kinder sie jetzt. Als die Frau mit zu einer Klassenfahrt nach Holland kommt, spotten die Schüler: „Ihh, die nimmt ne’ Nutte mit.“

Als Jugendliche sei sie nicht mehr missbraucht worden. Glaubt sie. Viel hat sie verdrängt. Andere Erlebnisse tauchen urplötzlich wieder auf. Flashbacks. Bilder aus Erinnertem und Unterbewusstem. Einige der Szenen, die sie in ihrer bislang unveröffentlichten Autobiografie niedergeschrieben hat, sind schwer zu ertragen. „Ich habe immer wieder erfahren, dass es zu hart ist für Mitmenschen, zu hören, was mir passiert ist. Dass sie nicht hinsehen wollen – oder es nicht wahrhaben wollen. Das erlebe ich oft: Dass Menschen stumm bleiben.“

Als Kind habe sie nicht verstanden, dass niemand aus der bürgerlichen Nachbarschaft sah oder sehen wollte, wie schlecht es ihr und ihrer Schwester ging. Heute findet sie die MeToo-Debatte über sexuellen Missbrauch „notwendig, aber verlogen. Weil viele lieber weggucken, statt aufzustehen, wenn in der Nachbarschaft etwas nicht stimmt, aber jeden Beitrag zur Debatte liken und sich aufregen“.

Niemand fragte, niemand schaltete das Jugendamt ein

Wie konnte es sein, dass nie jemand nachfragte, warum ein achtjähriges Mädchen in der Siedlung ständig einen Baum umarmte und dort weinte? Warum hatten Nachbarn ihre Beulen mit dem Spruch kommentiert, ob da wieder ein Kopf zu Bruch gegangen sei? Wieso hatte nie jemand das Jugendamt eingeschaltet, obwohl sie regelmäßig in der Wohnung geschrien hatte? Hatte die Männer, die abends kamen, nie jemand gesehen?

Kurz nach ihrem 18. Geburtstag zieht Ayla D. aus der Wohnung der Frau aus. Zuvor hat sie sich einer Lehrerin offenbart und mit dem Jugendamt ihre Flucht von zu Hause geplant. Die Schule muss sie abbrechen. Sie kommt in eine Wohngruppe für schwertraumatisierte junge Frauen – und erleidet wenig später schwere Flashbacks. D. spricht mit einer Therapeutin und beginnt, die Erinnerungen aufzuschreiben. Nach dem Baden wartet sie darauf, dass die Erzieherin zu ihr kommt und sie anfasst, missbraucht – so, wie es die Frau getan hatte. „Ich war fast böse, dass sie das nicht tat.“

Lange lebt sie in der Psychiatrie, rappelt sich aber wieder auf. Beginnt eine Ausbildung, holt das Fachabitur nach, beginnt ein Studium. Sie versteht schnell, liest viel. Kurz vor den Abschlussprüfungen lernt sie einen Lehrer kennen, der in der Nähe der Wohngruppe lebt. Der Mann erkennt, wie labil sie ist, macht sie mit Geschenken gefügig und missbraucht sie.

Der Täter führte über den Sex ein Notenbuch

Sieben Jahre später steht der Täter vor Gericht – neben D. hatte er auch eine 13 Jahre alte Schülerin missbraucht. Überführt wird er über ein Notenbuch, das er über den Sex geführt hat. „Er war ein Pedant, der immer sofort danach eine Note in sein Buch geschrieben hat“, sagt Ayla D. Im Prozess tritt sie als Hauptbelastungszeugin auf. Der Täter sitzt schräg hinter ihr. Der Mann wird zu fünf Jahren Haft verurteilt, D. denkt nach der Konfrontation an Suizid.

Sie besorgt sich einen Strick und hängt ihn an der Decke auf, der Fernseher läuft, Worte des Publizisten Michel Friedman dringen zu ihr: „Du kannst alles versuchen, und nicht schaffen, aber wenn Du es nicht versuchst, sieht es am Ende des Lebens schlecht aus. Du musst es immer versuchen.“ Diese Sätze, sagt D., „haben mir das Leben gerettet.“ In der Bäckerei zeigt sie eine Flaschenpost mit einem Brief an Michel Friedman.

Ayla D. lebt heute mit ihrem Mann und vier Kindern in einem Haus in einer bürgerlichen Siedlung. Sie hat eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau abgeschlossen, ihr Studium zur Wirtschaftsjuristin musste sie abbrechen. D. gilt als 50 Prozent schwerbehindert, hat Pflegestufe 2, erhält eine Opferrente, nimmt Antidepressiva, geht zur Therapie. „Meistens komme ich aber gut klar“, sagt sie. Im Gespräch wirkt sie fröhlich, fast gelöst. Es ist ihr wichtig, dass ihre Geschichte erzählt wird.

Manchmal hat sie überlegt, die Frau zu verklagen – und kam immer wieder zu dem Schluss: „Ich würde es nicht verkraften.“ Über den Missbrauch sprechen kann sie mittlerweile, ein großer Fortschritt. Für eine geregelte Arbeit wird sie zu oft von der Vergangenheit eingeholt. Aber wenn ihre Kinder in der Schule beleidigt werden – „Geh’ zurück nach Scheiß-Arabien“, rief kürzlich eine Schülerin ihrer Tochter zu – spricht sie mit der Lehrerin und den Eltern. Sie hilft bei den Schulaufgaben, geht zu Sprechtagen, fragt nach, wenn eins der Kinder ein Problem andeutet. Ayla D. ist für ihre Kinder da.