Bei Raser-Unfall gestorben„Dem Verbrecher war das Leben unserer Tochter völlig egal“
- Im März 2019 erwischt ein Raser den Wagen von Jaqueline und Riccardo aus Erkrath mit mehr als 160 Stundenkilometern mitten in der Stuttgarter Innenstadt.
- Die beiden werden in dem Auto zehn Meter durch die Luft geschleudert und sind sofort tot. Der Raser überlebt unverletzt. Nun muss er wegen zweifachen Mordes vor Gericht.
- Ein Gespräch mit den Eltern von Jaqueline zwischen Verzweiflung und Wut.
Erkrath – Fünf Sekunden bis zum Aufprall. Mert T. (20) beschleunigt das weiße Jaguar Coupé mitten in der Stuttgarter Innenstadt auf 140. So geben es spätere Ermittlungen wider. Der 550-PS-starke Motor jault auf. T. will seinem Kumpel zeigen, was er drauf hat, wie geil es ist, mit so einem Nobelschlitten durch die Nacht zu jagen. Es ist der Abend des Aschermittwoch, der 6. März 2019, gegen 23.30 Uhr. T. ist schon den ganzen Tag über mit seinen Freunden von der Nordbronx-Chat-Gruppe mit dem Jaguar durch die Gegend geheizt. Sie alle sind ganz heiß auf schnelle Autos, betteln T. regelrecht an, auch mal dabei sein zu dürfen.
Wen interessieren da noch Verkehrsregeln? Dreieinhalb Sekunden vor dem Zusammenprall zeigt der Tacho 157 an. Eine Sekunde später rast der Jaguar mit 168,69 Stundenkilometern durch das Bahnhofsviertel. Dort gilt Tempo 50.
Jaqueline und Ricardo aus Neuss sind sofort tot
Plötzlich biegt ein Wagen in die vielbefahrene Rosensteinstraße ein. T. will ausweichen, bremst viel zu spät , verliert die Kontrolle. Der Jaguar kracht mit voller Wucht in einen Kleinwagen. Es ist ein weißer Citroën, der an einer Parkplatz-Ausfahrt wartet. Der Aufprall ist so heftig, dass das Auto zehn Meter weiter an einen Baum geschleudert wird. Die beiden Insassen sind sofort tot. Der Todesfahrer überlebt unverletzt. Sein Beifahrer ebenfalls.
„Sie sind weg, einfach gestorben und ihr Tod ist so unnütz, wie irgendetwas.“ Carmen (48) und Olaf B. (57) sitzen Anfang August in ihrer Wohnung im Kreis Mettmann. Ihre Tochter Jaqueline (22) und Riccardo (25), ihr Freund, saßen in dem Citroën. Sie kennen die Ermittlungsakten, die Details des Unfallgeschehens. Lange haben sie überlegt, ob sie über den Tod ihres einzigen Kindes und dessen Freund sprechen wollen.
Mert T. ist wegen zweifachen Mordes angeklagt
Müßig zu erwähnen, wie schwer ihnen das fällt. Immer wieder fließen Tränen, gerät das Gespräch ins Stocken. Es ist ein Gespräch über die Ohnmacht, die Hilflosigkeit und die Leere, die sich immer wieder gnadenlos anschleicht, wenn ihnen klar wird, dass ein Raser, zwei Jahre jünger als ihre Tochter, ihnen das Wichtigste in ihrem Leben genommen hat. „Dem Verbrecher war das Leben unserer Tochter völlig gleichgültig. Er wollte nur seinen Freunden zeigen, was er für ein toller Typ ist“, sagt Mutter Carmen.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat den Todesfahrer wegen zweifachen Mordes angeklagt. Vom 11. September an muss sich Mert T. vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts verantworten. Die Ankläger gehen davon aus, dass der Kfz-Lehrling durch sein hohes Tempo billigend den Tod der Opfer in Kauf genommen hat.
Der Deutsch-Türke hätte mit dem Jaguar um ein Haar noch die Besucher eines Billardcafés über den Haufen gefahren, „hätten diese nicht das Ende eines Champion-League-Spiels verfolgt, anstatt draußen vor der Tür zu rauchen, heißt es in der Anklage. „Hätte er nicht unsere Tochter und ihren Freund getötet, hätte er sicher andere erwischt“, sagt Jaquelines Vater. „Der ist durch die Gegend gerast wie ein Irrer.“
Jaquelines Zimmer sieht aus, als hätte sie es eben erst verlassen
Nachts um 3.30 Uhr am Aschermittwoch überbringt die Polizei dem Ehepaar die Nachricht. Zwei Stunden lang reden Carmen und Olaf B. mit einem Seelsorger. Sieben Wochen lang können sie nicht einmal ansatzweise in ihr Leben zurückkehren. Alle Gedanken kreisen um den sinnlosen Tod ihrer Tochter und deren Freund.
Auch fünf Monate nach dem Unfall ist in Jaquelines Zimmer noch alles so, als habe sie es eben verlassen: die Stühle, die Kleidungsstücke, der Kleiderschrank. Carmen schafft es einfach nicht, den Raum zu verändern. Vor der Haustür steht ein Opel Astra. Ein Cabriolet, Farbe lila. Olaf B. hatte das alte Schätzchen noch einmal durch den Tüv gebracht. Für seine Tochter. „Aber nun wird sie ja nicht mehr kommen und ihn mitnehmen“, sagt er leise.
Jaqueline und Riccardo. „Es war für beide ihre erste große Liebe.“ Carmen erzählt, wie offen ihre Tochter war, dass sie „wie ein Wasserfall“ erzählen konnte, wie ihr Freund sehr gerne reiste und ein Jahr als Au-Pair-Mädchen in den USA verbrachte. „Riccardo war eher zurückhalten. Die beiden waren seit 2017 zusammen.“ Im Herbst 2018 hatte Riccardo einen Job als Kinotheaterleiter im Ufa-Palast in Stuttgart bekommen. „Für ihn war das eine tolle Chance.“ Jaqueline sei mitgegangen, weil sie keine Fernbeziehung wollte. „Sie wollte in Stuttgart weiter Betriebswirtschaft zu studieren.“
Eltern besuchten Tatort in Stuttgart
Schweigen. Vater Olaf blickt auf die Fortuna-Kaffeetasse über dem Holzofen. Elf Tage vor ihrem Tod waren Jaqueline und Riccardo noch bei den Eltern in Erkrath zu Besuch gewesen. Gemeinsam hatten sie im Stadion den Sieg von Fortuna Düsseldorf gegen Nürnberg gefeiert. „Das war das letzte Mal, dass wir beide gesehen haben.“
Wenige Tage nach der Katastrophe haben sich die Eltern dazu entschlossen, sich den Tatort in Stuttgart anzuschauen. Polizeibeamte begleiteten sie und schilderten ihnen den Ablauf des Geschehens. „Man kann gar nicht begreifen, wie so etwas geschehen konnte“, sagt der Vater.
Tödliche Raserunfälle
April 2019: Zwei 21-Jährige liefern sich mutmaßlich ein Rennen in einem Wohngebiet in Moers. Bei einem Überholmanöver stößt eines der Autos mit dem Kleinwagen einer 43-Jährigen zusammen. Die Frau stirbt einige Tage später an ihren Verletzungen.
Februar 2016: Bei einem Rennen auf dem Berliner Kurfürstendamm töten zwei Raser im Februar 2016 einen unbeteiligten Rentner. Teilweise waren die Täter 160 Stundenkilometer schnell. Beide Männer erhalten eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Das Urteil ist rechtskräftig.
April 2015: Die Jurastudentin Miriam S. stirbt im bei einem illegalen Autorennen auf dem Auenweg in Deutz. Ein Fahrer verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und trifft die 19-Jährige, als die auf ihrem Rad entgegen kommt.
März 2001: Bei einem Unfall am Rudolfplatz kommt der Sohn des damaligen Oberbürgermeisters Fritz Schramma (CDU) ums Leben. Zwei junge Autofahrer hatten sich ein Rennen auf den Ringen geliefert. Einer von ihnen rast in eine Menschengruppe. Stephan Schramma stirbt noch an Unfallstelle. (smx)
Zum Geburtstag ihrer Tochter am 9. Juni sind die Eltern noch einmal nach Stuttgart gefahren, haben Blumen an der Unfallstelle abgelegt. Ihren ursprünglichen Plan, von dort weiter zu einem kleinen Urlaub an den Gardasee aufzubrechen, mussten sie aufgeben. „Das ging einfach nicht“, sagt Olaf.
Mutter von Jaqueline: „Ich will dem Täter ins Gesicht sehen“
Wenn es um den bevorstehenden Prozess geht, schlägt die Verzweiflung um, wird die Wut spürbar. Beide haben sich fest vorgenommen, an jedem Verhandlungstag im Gerichtssaal zu sitzen. „Ich will dem Täter ins Gesicht sehen, der unsere Kinder getötet hat“, sagt Carmen. „Ich möchte wissen, was das für ein Mensch ist, warum er das getan hat.“
Für Olaf drängen sich viele Fragen auf. Wie es sein kann, dass ein Mietwagenverleiher einem 20-Jährigen einen derart hochgetunten Sportwagen ausleiht? Und warum der Gesetzgeber nicht wie bei Motorrädern üblich keine strengeren Vorschriften einführt?
Für den Rechtsanwalt der Familie sind noch weitere Fragen offen. „Die Polizei hat sich bei den Ermittlungen eine erhebliche Panne geleistet“, sagt Christoph Arnold. Nach seiner Festnahme hatte Mert T. zunächst Selbstmordabsichten geäußert und wurde laut Anklage mit einer Polizeistreife vorübergehend in eine psychiatrische Klinik gebracht. Auf der Fahrt dorthin habe ihn nur eins interessiert: Wie stark der Streifenwagen motorisiert sei.
Wichtiges Beweismaterial ging laut Anwalt bereits verloren
Über all dem hätten die Ermittler offenbar vergessen, dem Beschuldigten das Handy abzunehmen, sagt der Anwalt. Noch in der Unfallnacht habe Mert T. deshalb alle Freunde aufgefordert, alle Videos über die Spritztouren mit dem Jaguar auf ihren Mobiltelefonen zu löschen. Den Strafverfolgern sei es zwar gelungen, einen Teil davon wiederherzustellen. So fand sich auch ein Clip, auf dem zu sehen ist, wie Mert T. mit Tempo 274 über die A 8 rast. „Dennoch ging wichtiges Beweismaterial verloren“, sagt Arnold.
Und so stützt sich die Staatsanwaltschaft in erster Linie auf den Datenspeicher des Jaguars. Das Gerät listet ähnlich einem Flugschreiber die Daten eines Unfalls auf. Demnach beziffert der Speicher das Tempo 2,5 Sekunden vor dem Unfall auf gut 168 Stundenkilometer. Die Auswertung dieses Datenträgers könnte dem Angeklagten zum Verhängnis werden.
Mert T., leugnet so schnell gefahren zu sein
Bei einer Anhörung vor dem Haftrichter hatte Mert T. noch behauptet, höchstens mit Tempo 70 unterwegs gewesen sei. Einige seiner Freunde räumten im Verhör dagegen ein, er habe das Auto nicht im Griff gehabt. Für Carmen und Olaf B. steht fest: „Dem Angeklagten war der Tod unserer Kinder total egal. Er hat nur darauf geachtet, dass er aus der Sache möglichst heil herauskommt.“
Mutter Carmen fordert „die härtesten Sanktionen, die möglich sind. Sonst hört das nie auf mit den Rasern“. Im Kinderzimmer ihrer Tochter liegt ein Gedenkstein mit den Fotos von Jaqueline und Riccardo. Ein Herz aus grauem Marmor. Die Stadt Stuttgart hat genehmigt, dass der Stein an den Unfallort gesetzt werden darf. „Sinnlos aus dem Leben gerissen. Ihr fehlt. Jaqui und Riccardo.“