Fußballdeutschland ist enttäuscht. Zum zweiten Mal Vorrunden-Aus bei der WM der Männer. Aber es gibt Hoffnung. Im Kinderfußball ereignet sich eine Revolution. Die sorgt für mehr Spaß – und mehr Qualität. Dieser Text ist zuerst am 11. Dezember 2022 erschienen.
Meistgelesen 2022Wie Deutschland künftig wieder Weltmeister werden kann
Der Mann, der an diesem Freitagnachmittag am Vereinsheim des ESV Olympia Köln aus seinem Kombi steigt, öffnet den Kofferraum und zieht sich noch schnell Sportschuhe und seine Trainingskluft an. „Fußball ist Leidenschaft“, steht auf der Jacke. „Jetzt kann‘s losgehen“, sagt Christos Katzidis und lacht. Der neue Chef des Fußball Verband Mittelrhein (FVM) ist zum Sportplatz in Köln-Nippes gekommen, um sich ein Kindertraining anzugucken. „Die Umsetzung der neuen Spielformen im Kinderfußball ist aktuell eine der organisatorisch großen Herausforderungen“, erklärt Katzidis.
Neue Spielformen? Die Bezeichnung ist ein Understatement. Die „Sportschau“ spricht immerhin von einer „Revolution im Kinderfußball“. Was es damit auf sich hat, bringt ahnungslose Zuschauer zum Erstaunen. Ein Ortsbesuch im „Olympiastadion“, der Kunstrasenlage im Gleisdreieck von Nippes.
An diesem Nachmittag trainieren die Mädchenmannschaften der Jahrgänge U 9 (unter Neunjährige) und U 11. Der Platz ist in diverse Kleinspielfelder unterteilt. Dort kicken die Mädchen jeweils auf vier Minitore gegeneinander. Pro Mannschaft stehen lediglich drei Spielerinnen auf dem Feld. Eine Torfrau gibt es nicht. Ist das noch Fußball? Katzidis steht am Spielfeldrand und beobachtet die Abläufe. „Nicht jeder kann sich sofort mit den neuen Spielformen anfreunden“, räumt der Verbandspräsident mit Blick auf das Spielfeld ein. „Aber es ist toll zu sehen, wie weit die Vereine schon sind.“
Regeln sollen ab der Saison 2024/2025 verbindlich gelten
Die Zeit drängt. Denn der Deutsche Fußball Verband (DFB) hat entschieden, dass die neuen Regeln ab der Saison 2024/2025 verbindlich eingeführt werden. Lisa Steffny, sportliche Leiterin des Mädchen- und Frauenfußballs beim ESV, erklärt die Vorzüge der neuen Spielformen. „Sie haben viele Vorteile für die sportliche Entwicklung. Je weniger Spielerinnen auf dem Platz sind, desto mehr Tore fallen“, erklärt die Trainerin der Frauenmannschaft. Es werde mehr gepasst, gedribbelt und geschossen. „Wegen der kleinen Teams haben alle mehr Einsatzzeit. Die Kinder haben deutlich mehr Erfolgserlebnisse, von denen sie berichten können. Das sorgt für Fußballbegeisterung, auch in den Familien“, ist sich Steffny sicher.
Im klassischen Ligabetrieb spielen die Jugendmannschaften 7 gegen 7. Bei einem Kader von 18 Spielerinnen und Spielern kommt in der Regel nur ein Bruchteil des Teams zum Einsatz. „Die Ersatzspieler sind oft enttäuscht, manche verlieren die Lust am Fußball“, sagt Jugendleiter Sönke Kunkel. Bei den neuen Spielformen würden hingegen auch die schwächeren Spieler mitgenommen. „Die Kinder haben mehr Spaß - und spielen am Ende sogar den besseren Fußball“, so der Trainer der U 10. Kunkel ist zuversichtlich dass die neuen Spielformen „am Ende mehr Mario Götzes“ produzieren werden.
Das Spiel auf kleine Tore wird oft auch Funino genannt. Das ist eine Wortkonstruktion aus dem englischen „fun" (Spaß) und dem spanischen „nino" (Kind), heißt also „Spaß für Kinder“. Der Begriff wurde in den 80er Jahren vom ehemaligen Hockey-Bundestrainer Horst Wein erfunden. In Köln gründeten Trainer von verschiedenen Vereinen - mit Zustimmung des Kreisverbands - bereits 2017 eine Pilotstaffel. Daraus entstand ab der Saison 2018/2019 die 3-gegen-3-Liga Köln, ein kompletter Spielbetrieb in den neuen Spielformen des Kinderfußballs für alle Altersklassen.
In der 3-gegen 3-Liga ist jeder Spieltag ein Miniturnier, oder ein „Fußballfest“, wie es der Fußball Verband euphorisch nennt. Teams aus mehreren Vereinen spielen innerhalb von 60 Minuten parallel auf bis zu vier Feldern bis zu sechs Spiele gegeneinander. Die Spielzeit beträgt sieben Minuten, gerade mal drei Minuten bleiben, um das Feld zu wechseln. Beim Gewusel, das dabei auf dem Platz entsteht, fällt es den Zuschauern schwer, den eigenen Nachwuchs im Auge zu behalten.
Das ist vielleicht einer der Gründe, warum nicht alle Eltern von den neuen Spielformen restlos begeistert sind. Immer wieder wird behauptet, dass im Funino keine Torwarte mehr ausgebildet würden. Das stimmt aber nicht, denn bei den Turnieren wird neben dem Funino auch auf Jugendtore gespielt. „Außerdem ist es im modernen Fußball extrem wichtig, dass Torwarte im Feld mitspielen können“, sagt Jugendleiter Kunkel. Auch Nationaltorhüter Manuel Neuer hat übrigens als Feldspieler angefangen.
Breite Akzeptanz lässt auf sich warten
In Köln spielen an jedem Wochenende zirka 150 Mannschaften mit insgesamt rund 2000 Kindern in der 3-gegen-3-Liga. Die ist mittlerweile bundesweit als Best Practice-Projekt der neuen Spielformen anerkannt. Aber nicht überall läuft es so gut. Der Fußball Verband Mittelrhein weiß, dass bei vielen Vereinen noch dicke Bretter zu bohren sind, bis es eine breite Akzeptanz für den neuen Ansatz gibt.
Ein Problem stellt die Organisation der Turniere dar. Während der Spielbetrieb in den etablierten Ligen durch den Verband geregelt wird, müssen die Funino-Turniere von den Mannschaften selbst organisiert werden. Ein komplexer Vorgang, bei dem Grundkenntnisse im Tabellenkalkulationsproramm Exel unerlässlich sind. Viele Trainer sehen sich überfordert.
Als Hilfestellung bietet der Verband, der mit den Vereinen bislang vorzugsweise über die gelbe Post kommuniziert, jetzt mehrmals im Jahr Online-Schulungen für Funino-Anfänger an. Thomas Staack, Referent für Kinderfußball, sitzt dann in seinem Dachzimmerbüro vor dem Bildschirm und erklärt, worauf es ankommt. Zum Beispiel, dass die Mannschaftsvertreter sich Spieltag für Spieltag neu vernetzen müssen. Es gilt, WhatsApp-Gruppen zu gründen, in denen abgeklärt wird, welche Vereine mit wieviel Teams zum Turnier kommen. Das digitale Hin und Her nervt viele Trainer. Staack hebt jedoch die positiven Effekte der Selbstorganisation hervor: „Dadurch entstehen ein enger Zusammenhalt der Vereine, eine intensive Kommunikation und Kooperation. Für jedes Problem finden wir eine Lösung.“
Nach Angaben des FVM spielen im Verbandsgebiet bislang 878 von 2133 Kinderteams gemäß der neuen Spielformen. Das ist eine Quote von zirka 41 Prozent. Je älter die Spielerinnen und Spieler werden, umso geringer ist aber offenbar ihre Lust, bei Funino mitzumachen: Im E-Juniorenbereich (U10/U11) sind derzeit nur rund 25 Prozent für Funino gemeldet.
Vorbehalte bei Trainerinnen und Trainern
Auch bei den Trainerinnen und Trainern gibt es vielerorts Vorbehalte. Deswegen hat der DFB jetzt spezielle Lehrgänge für Kindertrainer entwickelt, die darauf ausgerichtet sind, auch hartgesottene Traditionalisten von den neuen Spielformen zu überzeugen.
Karl Slickers ist seit fünf Jahren DFB-Stützpunkttrainer im Fußballkreis Rhein-Erft. Seit knapp einem Jahr bildet der ehemalige Amateurspieler der SG Worringen Kindertrainerinnen und Kindertrainer im Fußball-Verband Mittelrhein aus. An diesem Sonntagmittag steht er auf einem Nebenplatz der BayArena in Leverkusen und leitet eine Gruppe von 25 Lehrgangsteilnehmern an.
Die Männer und Frauen, die fast alle im Dress ihres Vereins erschienen sind, wollen das Kindertrainer-Zertifikat des Fußball-Verbands erwerben. Nach dem Theorieteil am Vormittag hat Slickers sie in die Umkleidekabine geschickt. Jetzt stehen sie als Spieler auf dem Feld und erleben, wie es sich anfühlt, 3 gegen 3 zu spielen. Der Perspektivwechsel, der die Kindertrainer von den Vorzügen der neuen Spielformen überzeugen soll, treibt manchem schnell den Schweiß auf die Stirn.
„Drei gegen drei ist mitunter ganz schön anstrengend, weil man ständig am Ball ist“, erläutert Slickers. Das Spiel erfordert nicht nur Kondition, es ist technisch äußerst anspruchsvoll. Im Idealfall nehmen die Spielerinnen und Spieler schon vor dem ersten Ballkontakt wahr, wo die Mitspieler stehen. Die Bambinis lernen, blitzschnell zu entscheiden, ob sie lieber passen oder dribbeln wollen, um sich anschließend in einer Eins-gegen-Eins-Situation gegen den Gegner durchzusetzen. Eine Fähigkeit, die Spitzenfußballer auszeichnet.
Zauber des Kinderfußballs lebt vom Nichteingreifen
Nicht nur die Kinder, auch die Trainerinnen und Trainer müssen sich an die neuen Spielformen gewöhnen. Weil es an Trainern mangelt, übernehmen den Job oft Eltern, die früher selbst Fußball gespielt haben und die Kinder wie eine Seniorenmannschaft coachen. Da wird oft ins Spiel gerufen, instruiert und geschimpft. Wissenschaftliche Studien haben allerdings ergeben, dass der Kinderfußball seinen Zauber am besten entwickelt, wenn möglichst wenig von außen eingegriffen wird. „Wer meint, im Kinderfußball die Bildung einer Vierkette einfordern zu können, liegt falsch“, sagt Stützpunktrainer Slickers augenzwinkernd. „Kinder lernen viel besser, wenn sie selbst Lösungen finden und spielerisch Erfahrungen sammeln. Daran haben sie auch am meisten Spaß.“
Beim Training der Mädchen im „Olympia-Stadion“ ist die Stimmung ausgelassen. Wie fast an jedem Wochentag ist der Platz bis auf den letzten Quadratmeter aufgeteilt. Bisweilen gibt es nicht genug Minitore, dann werden die Gehäuse durch Hütchen ersetzt. Der Verein hat den Anspruch, die jungen Spielerinnen und Spieler professionell zu fördern. „Die Frauenfußball-EM hat nochmal einen Schub bei den Anmeldungen ausgelöst“, berichtet Lisa Steffny. „Mittlerweile sind fast ein Drittel der Aktiven in der Fußballabteilung weiblich.“
Viele Vereine im Fußball Verband Mittelrhein haben beim Ausbau der Mädchen- und Frauenabteilungen noch Luft nach oben. „Dabei liegt im Mädchenfußball für unsere Vereine eine große Chance, noch mehr aktive junge Menschen für den Fußball zu begeistern“, sagt Katzidis, der seit 2017 als Innenexperte für die CDU im Düsseldorfer Landtag Politik macht. Die gesellschaftliche Bedeutung für die Wertevermittlung sei von zentraler Bedeutung, sagt der Mann mit den griechischen Wurzeln. „Das fängt mit Kleinigkeiten an, wie zum Beispiel Disziplin, Teamorientierung, Lernen am Erfolg und Misserfolg und geht weiter bis zu den großen gesellschaftspolitischen Themen wie einer Haltung gegen Gewalt, Diskriminierung, Rassismus, Rechtsextremismus und einem Engagement für Gleichberechtigung“, so der frühere Libero des SV Wersten 04.
Dabei nimmt der Verbandspräsident auch die Profis in die Verantwortung. Diese würden ihrer Vorbildfunktion leider nicht immer gerecht, beklagt der gelernte Polizist. Auch die Rolle der Spitzenfunktionäre sieht er kritisch. „Wer Geld über Werte stellt, macht damit deutlich, dass er keine Werte hat. Der Auftritt der FIFA beziehungsweise von Präsident von Gianni Infantino bei der WM in Katar ist beschämend. Die FIFA braucht dringend einen Neustart.“
Platzkapazitäten reichen vorne und hinten nicht aus
Zurück nach Köln-Nippes. Den Amateurfußball plagen meist profane Sorgen. So reichen beim ESV die Platzkapazitäten aufgrund des schnellen Wachstums der Fußball-Abteilung mittlerweile vorne und hinten nicht mehr. „Wir benötigen dringend eine zweite Spielfläche“, sagt Fußball-Vorstand Günter Brandt. Die Politik spreche oft von der großen Bedeutung des Breitensports und von der sozialen Verantwortung der Vereine. „Wenn es darum geht, gute Rahmenbedingungen zu schaffen benötigen die Vereine jedoch mehr Unterstützung", so der Abteilungsleiter. Eine Klage, der Katzidis bei seinen Vereinsbesuchen regelmäßig begegnet.
Am Ende des Besuchs ziehen der Präsident und die Vereinsvertreter ein positives Fazit. Man hat die Hoffnung, dass sich die Investitionen in den Kindersport für den DFB langfristig auszahlen werden. „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir durch die neuen Spielformen perspektivisch auch mehr Fußballerinnen und Fußballer mit einer höheren Spielintelligenz bekommen - und bestenfalls dann auch im internationalen Vergleich noch besser mithalten können“, freut sich Katzidis. Die aktuellen Änderungen könnten sich aber erst in einigen Jahren im Seniorenbereich bemerkbar machen: „Das erneute frühe Ausscheiden in Katar hat den Nachholbedarf vor Augen geführt.“