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Bensbergerin spricht über Vergewaltigung„Die Seele ist ein Leben lang gebrandmarkt“

Lesezeit 4 Minuten

Die traumatischen Geschehnisse in der Kindheit und Jugend holen die Opfer auch als erwachsene Frauen oft ein.

  1. Die 58-jährige Johanna B. wurde vor 45 Jahren missbraucht. Sie hat viel zu spät den Mut gefasst und sich gemeldet.
  2. Die Übergriffe von Lügde reißen bei Johanna wieder alte Wunden auf.
  3. Sie sprach mit uns über ihre Geschichte, was für Folgen der sexuelle Missbrauch für sie hatte und was sie Kindern in der gleichen Situation rät.

Bergisch Gladbach – Der Fall Lügde hat alles wieder hochgespült. Johanna B. legt die Zeitung auf den Tisch. Ein großer Artikel berichtet über den Stand der Ermittlungen gegen Dauercamper „Addi“ und drei Komplizen, die 20 Jahre lang Kinder in einem Wohnwagen missbraucht haben sollen. 22 Opfer haben ausgesagt, Ermittler vermuten die Zahl der missbrauchten Kinder fast doppelt so hoch, die Rede ist von gut 1.000 Taten. Allein „Addi“ ist in fast 300 Fällen angeklagt.

Der Fall Lüdge reißt bei Johanna B. aus Bensberg alte Wunden wieder auf

„Das ist eine unvorstellbare Dimension“, sagt die 58-jährige Bensbergerin geschockt. „Was wird bloß mit den Opfern? Wie werden die Kinder in ihrem Leben damit klar kommen und wer hilft ihnen dabei?“, fragt sie. „Darüber wird in der Öffentlichkeit viel zu wenig berichtet, was ein solcher Missbrauch bei den Menschen anrichtet, bei den Opfern, aber auch in ihrem Umfeld.“ Johanna B. (Name geändert) weiß, wovon sie spricht. Denn sie ist selbst im Alter von 14 Jahren vergewaltigt worden. „Das schleppt man sein Leben lang mit sich herum.“

In Zahlen

40 neue Fälle von sexuellem Missbrauch pro Tag meldet das Bundeskriminalamt (BKA) in seiner aktuellen Statistik. Darauf weist die Sicher-Stark-Organisation hin, die sich seit Jahrzehnten für den Kinderschutz einsetzt.

14.606 Kinder waren 2018 von sexueller Gewalt betroffen. Die Dunkelziffer gilt als hoch.

4.129 Fälle wurden davon von der Staatsanwaltschaft zur Ermittlung gebracht.

7.449 Fälle zu Herstellung, Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie wurden im Jahr 2018 aufgedeckt. Das ist ein Anstieg von 14 Prozent, der möglich wurde aufgrund neuer technischer Methoden des BKA.

Johanna B. ist es gelungen, das Geschehene jahrzehntelang in sich wegzuschließen. Sie hat den Täter, ihren Großonkel, nicht angezeigt; ihre Mutter hätte das nicht zugelassen, sagt sie. Er sei ein angesehener Mann gewesen in dem Dorf im Rheinisch-Bergischen Kreis, wo sie auf einem einsamen Bauernhof aufgewachsen ist, auch in Vereinen aktiv. Johanna B. ist so bald wie möglich weggegangen, hat geheiratet und ihre Kinder bekommen. Ein ganz „normales“ Leben hat sie geführt. Die Sache schien irgendwie erledigt.

Sie fühlte sich wie „Das ewige Opfer“

Doch da waren die chronischen Schmerzen, die Depressionsschübe, das mangelnde Selbstwertgefühl. „Ich war ständig in der Defensive“, weiß sie heute, nach einem Jahr intensiver Psychotherapie: „Das ewige Opfer.“ Im Ruheraum der Sauna ist sie es, die belästigt wird von einem Mann, und nicht die junge provozierende Blondine auf der Liege daneben. „Die Täter riechen das förmlich, dass sie keinen Widerstand von mir zu erwarten haben“, glaubt Johanna und berichtet über die Schockstarre, die sie noch immer überfällt, wenn jemand übergriffig wird oder zu werden droht. „So etwas schüttelt man nicht ab, das ist ein Verhaltensmuster, das ich damals gelernt habe.“

Hilfreiche Anlaufstellen

Eine hilfreiche Anlaufstelle für weibliche Opfer ist der Verein „Frauen helfen Frauen“ in Bergisch Gladbach, der das Frauenhaus, die Frauen- und Mädchenberatungsstelle betreibt. Dort gibt es Beratung und Soforthilfe, auch zum Thema „Beweissicherung nach Vergewaltigung“: Dabei geht es darum, in Zusammenarbeit mit Gynäkologen und Kliniken Spuren der Tat zu sichern, um unter Umständen auch erst später Anzeige erstatten zu können. Adresse: Hauptstr. 155, 51465 Bergisch Gladbach, (02202) 45112.

Der Deutsche Kinderschutzbund unterhält eine Fachberatungsstelle beim Rheinisch-Bergischen Kreis, an die sich Schulen und Kitas wenden können.

Die Sicher-Stark-Initiative veranstaltet Workshops in Kitas und Schulen, in denen Kinder Selbstvertrauen lernen und Abwehrstrategien trainieren.

In Kürten setzt sich der gemeinnützige Verein Tour 41 gegen die Verjährung von Missbrauchsdelikten ein und bietet Beratung und Akuthilfe für Opfer an.

https://frauenhelfenfrauen-gl.de

www.kinderschutzbund-rheinberg.de

www.tour41.net

Johannas Vater starb früh, sie stand daneben, ein nächstes Trauma lief ab. Mutter und Bruder schufteten auf dem Hof. „Für Zuwendung war keine Zeit. Schon gar nicht für Liebe. Ich wurde nicht gesehen.“ Ein repressives, reizarmes Leben am Rand der Zivilisation, verbunden mit dem Gefühl, nutzlos und wertlos zu sein. Die Tat in der einsamen Hütte am Teich und ihr Umgang damit erscheint ihr heute gewissermaßen als logische Konsequenz aus all dem. Ihre Mutter hat ihr nicht geglaubt, der Bruder betrachtet ihr spätes Coming out als Nestbeschmutzung.

Die Verarbeitung solcher Erlebnisse sei ein lebenslanger Prozess

Für eine Anzeige ist es zu spät, der Fall ist längst verjährt, der Täter tot. Aber Johanna B. möchte ihre Geschichte jetzt trotzdem erzählen, um die Erwachsenenwelt zu warnen und zu sensibilisieren. „Dass es möglich ist, so viele Kinder wie in Lügde in diese Missbrauchfalle zu locken und jahrzehntelang ihr Schweigen zu erpressen . . . Nicht zu fassen, dass Eltern oder Bezugspersonen nicht gemerkt haben oder wissen wollten, was da passiert.“ Aber es war bei ihr ja damals genauso, sagt sie. Vor 45 Jahren auf dem Bauernhof. „Dabei ist die Gesellschaft doch heute viel sensibler beim Thema Missbrauch. Aber das reicht offenbar nicht. Wir müssen noch mehr präventiv tun, um Kinder stark zu machen.“ Sie selbst will sich jetzt einbringen und anderen Opfern als ehrenamtliche Beraterin zur Seite stehen. Was die Kinder von Lügde angeht, hofft Johanna B., dass ihnen gute psychologische Hilfe zuteil wird.

Aber: „Die Verarbeitung ist ein lebenslanger Prozess, denn solche Erlebnisse lassen sich nicht wegwischen. Deine Seele ist ein Leben lang damit gebrandmarkt“.