Ein Zirkuswagen, ein paar Stufen, eine Tür – und dahinter ein ganzes Leben.
Zirkus Liberty in Bergisch GladbachSo lebt eine Zirkusfamilie in ihrem Wohnwagen
Nur ein paar Quadratmeter reichen Francesco und Joanna Weiss mit ihren Kindern: Eine Küche, ein Esstisch für vier, eine TV-Wand; auf dem Boden buntes Spielzeug, an allen Wänden gerahmte Fotos. Tochter Amy (7) sitzt wie selbstverständlich im Spagat auf dem Teppich, der einjährige Anthony versucht sich am „Kopfstand“ mit Füßen auf dem Boden. Die Kinder sind die vierte Generation des Zirkus „Liberty“. Generationen vor ihnen zogen bereits durch das Land. „Ich glaube, unser Stammbaum hat tausend Äste“, sagt Francesco Weiss lächelnd. „Angefangen bei Gauklern und Spielleuten.“
Beinahe versteckt kampiert der kleine Zirkus hinter dem Friedhof in Paffrath. Auf der sattgrünen Wiese grasen zwei Kamele. Ein Landwirt stellt die Fläche kostenfrei zur Verfügung. „Dass der Zirkus 2022 zum immateriellen Kulturerbe ernannt wurde, hilft uns nichts“, sagt Francesco. „Unsere drängendste Frage ist immer: Ob und wo geht es nächste Woche weiter?“ Die Plätze, die Kommunen an Zirkusse vermieten, werden immer rarer.
Die Konkurrenz im digitalen und im wirklichen Leben wird hingegen immer größer. „Wir sind ein Zirkus für Kinder. Bei uns springt halt keiner aus 20 Metern aus der Zeltkuppel“, sagt er. Statt großer Attraktionen gibt es zugewandte Nähe. Die Artisten beantworten Fragen, die Tiere können gestreichelt werden; keine Zäune, keine Verbotsschilder, und Zuckerwatte gibt’s von der Seiltänzerin – herzlich willkommen im Zirkus und in unserem Leben.
So romantisch, wie sich mancher das „freie“ Zirkusleben vorstellt, ist es freilich nicht. Wohnen mit Schlamm, Nässe und Stromausfällen sowie harte Arbeit prägen das Leben. „Ich bin Mechaniker, Schweißer und Elektriker“, sagt Francesco, was heißen soll: Wir machen hier alles selbst, was irgendwie geht. Dennoch ist es ein Leben von der Hand in den Mund, und im Urlaub war die Familie noch nie. Das Wort Ägypten fällt, aber ernsthaft geplant hätten sie noch nie.
Immer wieder sagen die beiden Sätze wie „Wir sind hier reingeboren“ oder „Vermissen kann man nur, was man kennt.“ Sie führen ein genügsames Leben in einer Parallelwelt mit uralter Tradition, und sie wünschen sich dafür Verständnis und Wertschätzung, auch wenn sie es nicht direkt aussprechen.
Geheiratet werden selten „Private“ - Menschen, die nicht aus einer Zirkusfamilie stammen.
Nebenan steht der Wagen von Mutter Marina. In ihm wuchsen Francesco und seine beiden Schwestern auf. Die eine, Lorena, lebt mit Mann und Tochter im dritten Wohnwagen; die andere mit ihrem Partner in einem anderen Zirkus. Kaum irgendwo führen Familien so enge Beziehungen. Geheiratet werden selten „Private“, wie all jene heißen, die nicht aus einer Zirkusfamilie stammen.
Amy geht in die erste Klasse, immer dort, wo der Zirkus gerade gastiert. Die Zirkusschule NRW unterstützt beim Lernen. „In meiner Grundschulzeit kam meistens der Lehrer und sagte: „Setz dich mal hin und mal ’was Schönes““, erinnert sich Francesco. Dafür seien damals die Kinder aus dem Dorf immer zum Spielen und Helfen gekommen. „Heute verirrt sich nur ganz selten ein Kind hierher, um Amy zu besuchen“, sagt Francesco. Wie das alles weitergeht, wisse er nicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie es schaffen, den Zirkus nochmal fortzuführen“, sagt er.
Im Wagen-Hinterzimmer spielt Amy nun zwischen Mikrowelle, Wäsche und Abstellregalen. Mehr Platz als ein Spagat ist dort kaum. Und nun äußert Joanna doch einen Wunsch: Ein eigenes Zimmer für Amy. Mit einem eigenen Bett statt einem Sofa im Elternwohnwagen. „Du bekommst nicht viele Chancen als Zirkusfamilie“, sagt sie.
Es klingt eher nach Feststellung als nach Klage. „Wenn ich sage, ich bin Artist, zeigen sie mir bei jeder Bank einen Vogel“, erläutert Francesco. „Aber es ist nun mal mein Beruf.“ Kredite gibt’s nicht, Sparen gelingt selten. „Und wenn, dann geht garantiert etwas kaputt oder ein Tier wird krank“, sagt Joanna und bricht unvermittelt in begeisterte Bravo-Rufe aus. Anthony hat soeben verdutzt aus seinem Kopfstand den ersten Purzelbaum seines Lebens gemacht.
„Wir haben uns. Und wenn der Vorhang aufgeht, ist sowie alles vergessen“, sagt Joanna. „Probleme, Kälte, Sorgen und Hoffnungen.“ Dann zählt nur noch das Hier und Jetzt, die Manege, die Kinder auf den Plastikstühlen, ihr Lachen und „dass sie eine gute Zeit haben“. Das ist der Sinn hinter ihrer Arbeit, hinter ihrem Leben, hinter ihrer Tradition – an jedem Ort und bei jeder Vorstellung aufs Neue.
Die ganze Familie Weiss steht in der Manege. Vater Francesco (40) ist Zirkusdirektor und Jongleur und wirft Messer und Äxte rund um seine Schwester und seine Mutter. Seine Frau Joanna ist Clownin, Schwester Lorena tanzt auf dem Seil und ihr Mann zeigt eine Dressurnummer mit Pferden und Ponys. Tochter Amy zeigt Bodenakrobatik und eine Hola-Hoop-Nummer. Sohn Anthony wird am Ende auf Händen durch die Manege getragen. Mutter Marina sitzt an der Kasse und Lorena kümmert sich mit Popcorn und Zuckerwatte um weiteres Zirkusgefühl.
Der Zirkus gastiert noch bis zum kommenden Wochenende in Bergisch Gladbach-Paffrath. Vorstellungen sind Donnerstag, Freitag und Samstag um 16 Uhr und Sonntag um 11 Uhr. Eintritt 10 Euro für Kinder, 12 für Erwachsene. In der Pause können die verschiedenen Tiere besucht werden, und nach der Vorstellung können die Kinder Ponyreiten. Die Kamele sind nicht in der Manege zu sehen. Alle Tiere werden kontinuierlich von den Kreisveterinären der Spielorte ohne Beanstandung untersucht.