Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Dr. Rüdiger Posth„Jeder ist erst Opfer und dann Täter“

Lesezeit 5 Minuten

Kinder, die selbst gewalttätig werden, haben dies zuerst zu Hause erfahren, sagt Rüdiger Posth. Er gibt in seinem Buch Ratschläge für die richtige Erziehung.

Bergisch Gladbach – Eltern, die ihre Kinder misshandeln, Jugendliche, die scheinbar grundlos Menschen zu Tode prügeln, Kinder, die andere Kinder quälen. Auch wenn die Kriminalitätsstatistik keine allgemeine Zunahme feststellt, gibt es immer wieder Beispiele für eine sinkende Schwelle zur Gewaltanwendung und eine zunehmende Hemmungslosigkeit.

Woher kommt die Gewalt? Und wie lässt sie sich verhindern? Der Bergisch Gladbacher Kinderarzt und -psychologe Dr. Rüdiger Posth wird mit dem Thema Gewalt in seiner täglichen Praxis häufig konfrontiert. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben und räumt darin mit so manchem althergebrachten wie neueren Erziehungsgrundsatz auf.

„Gewaltfrei durch Erziehung“ heißt Posths Buch, womit gleich geklärt wäre, wer die Verantwortung trägt. „Es ist immer leicht, alles auf soziale Verhältnisse zu schieben“, sagt der Psychologe, „aber das ist alles kein Grund, sein Kind nicht richtig zu erziehen.“ Geboren werde ein Kind ausgestattet mit einem speziellen Temperament, aber per se unschuldig, und es habe das Recht, auch unschuldig zu bleiben.

„Jeder Mensch ist immer erst Opfer und dann Täter“, sagt Rüdiger Posth. Dass immer noch 50 Prozent der Deutschen einen Klaps oder eine Ohrfeige für legitim halten, ist für ihn unbegreiflich. Ebenso wie Beschimpfungen, die die Persönlichkeit des Kindes angreifen. „Da können schon kleine Dosen große Wirkung haben“, sagt er. Seine Überzeugung: Wer Gewalt – auch und gerade psychische – sät, wird Gewalt ernten. Für höchst problematisch hält er auch den weit verbreiteten Grundsatz, Kindern müssten von Anfang an Grenzen gesetzt werden. „Grenzen setzen ist die zum Schlagwort erstarrte Formel versteckt autoritärer Erziehungsformen geworden“, sagt Posth und zieht die Weltkarte als Vergleich heran. Eine willkürlich gezogene Grenze bewirke das Gegenteil einer friedlichen Einigung. „Hier sagt der Stärkere und Mächtigere dem Schwächeren, wo dieser haltzumachen hat. Grenzen aber müssen gemeinsam gefunden werden, nicht einseitig gesetzt.“ Dominanz, Stärke und Unterwerfung, kurz Macht sieht Posth als einen der Hauptgründe für wachsendes Gewaltpotenzial.

Die Alternative zum Grenzen setzen sieht er in gemeinsam vereinbarten Regeln. Dazu gehört das Erklären der Eltern, welchen Anspruch sie haben und warum. Beispiel: Das Kind soll nicht das Zimmer aufräumen, weil Mama es will, sondern weil Mama nicht stolpern und sich wehtun möchte, wenn sie nachts noch einmal nach dem Rechten sieht. Das Kind muss das Gefühl haben, es werde gehört und seine Stimme habe bei den Erwachsenen Bedeutung. „Dadurch wird sein Stolz angesprochen“, erklärt er, „und genau dieser veranlasst das Kind zur Einhaltung der Regel.“

Letztendlich lassen sich Posths sehr ausführlich entwickelte Thesen auf einen Hauptpunkt reduzieren: Die Bindung zwischen Eltern und Kind ist der entscheidende Schlüssel zur Eindämmung von Aggression unter Menschen. Weder der „böse Eigensinn“ des Kindes noch der Mangel an Grenzen seien die Urheber von Entwicklungskrisen, sondern Beziehungsstörungen. Durch sie würden Kinder immer mehr das, was ihnen zuvor unterstellt worden ist, nämlich eigensinnig, bockig, zickig und oppositionell gegen zu starre Grenzen.

Mögliche Gründe für Risse in der Familie sieht Rüdiger Posth in Unkenntnis und Unerfahrenheit, aber auch in falschen Ratschlägen von Fachleuten, zum Beispiel bei den Ursachen der Schreibabys durch die Kindermedizin – oder in der volksnahen Auffassung, einen Säugling nicht verwöhnen zu dürfen. „Es gibt kein Verwöhnen des Säuglings“, widerspricht er. Säuglingsbedürfnisse sollten möglichst prompt und angemessen befriedigt werden. Das Trotzen der Kleinkinder hält er für einen wichtigen Entwicklungsprozess zur Selbstbehauptung und nicht für reine Widerspenstigkeit.

Aber auch der gesellschaftliche Druck, ein harmonisches Familienleben zu führen und gleichzeitig in Beruf und Gesellschaft zu funktionieren, habe Potenzial zu falschen erzieherischen Mitteln. „Wir haben keine Zeit mehr zu warten. Ein Kind soll sofort funktionieren, aber Kinder müssen zu bestimmten Fähigkeiten heranwachsen“, sagt er.

So würden Entwicklungsfenster nicht berücksichtigt und das Kind werde überfordert. Er nennt Beispiele: „Gemeinsames Schlafen“ sei bis vier Jahre völlig akzeptabel, die Furcht eines Kleinkindes vor Dunkelheit ebenso normal wie die für alle Beteiligten anstrengende Ablösung in der Pubertät. Zwei- bis Dreijährige haben nicht die Feinmotorik für Messer und Gabel, und die Entschuldigung mit Worten sei erst von einem angehenden Schulkind zu erwarten. Davor sei sie ein einstudierter Automatismus – nett, aber ohne Erkenntniswert für das Kind. „Alle diese elterlichen Ansprüche sind problematisch für die kindliche Entwicklung und in vielen Fällen sogar falsch“, sagt Posth.

Mit neuesten Erkenntnissen aus Psychologie, Hirnforschung und Pädagogik entwickelt er in seinem Buch, worauf es aus seiner Sicht wirklich ankommt: das Wachsen von Empathie, Mitleid, Reue, Gewissen, Toleranz – das Werkzeug fürs Leben, und zwar eines ohne Gewalt. Stattdessen ausgestattet mit dem Wissen um Streitgespräch, Verhandlung und Kompromissfindung auf dem Boden eigenen Selbstbewusstseins und gegenseitigen Respekts.

Ein Erziehungsratgeber mit schnellen Antworten auf schwierige Fragen ist sein Buch nicht. Posth fordert die Leser auf, Bereitschaft zu wissenschaftlichem Denken mitzubringen und Anwendung auf die eigene Situation zu versuchen. Verblüffend ist daher, dass sich sein Erziehungskonzept auf sechs Wortpaare reduzieren lässt: Integrieren statt konditionieren, Reifung statt Anpassung, Regeln statt Grenzsetzung, Kompromiss statt Anweisung, Motivation statt Strafe, Überzeugung statt Diktat. Zwölf Wörter, sechs Wortpaare mit Potenzial, die Welt zu verändern, hin zu einer gewaltlosen Gesellschaft? „Ja, diese Vision habe ich“, sagt Rüdiger Posth, „und Großes ist schon häufig aus Visionen entstanden.“

Gewaltfrei durch Erziehung, Waxmann-Verlag 2013, ISBN 978-3-8309-2825-6, 24,95 Euro