Professor Schultz-VenrathGladbachs Pionier des Mentalisierens geht in den Ruhestand
Bergisch Gladbach – Die Bücherregale sind schon fast leer. Durch die großen Fenster im zweiten Stock der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik fällt fahles Winterlicht in das Chefzimmer, das Professor Ulrich Schultz-Venrath nach 20 Jahren Ende des Monats räumt. Nur ein Bild seines Berliner Lieblingsmalers Dieter Masuhr hängt noch an der Wand.
Der Mediziner wirkt entspannt und blickt entsprechend versöhnlich zurück. „Wir haben viel erreicht,“ sagt der 66-jährige zufrieden. „Viel“, das ist nicht weniger als der Aufbau einer komplett neuen klinischen Abteilung am Evangelischen Krankenhaus in Bergisch Gladbach.
Schultz-Venrath ist stolz darauf, als Pionier einer Wissenschaft zu gelten, die um Anerkennung in der Öffentlichkeit kämpfen musste. Auch intern ist sie bis heute geprägt von Animositäten und Glaubenskämpfen zwischen unterschiedlichen Schulen, zwischen Psychiatern, Psychotherapeuten und Psychosomatikern. Zu letzteren zählt sich Ulrich Schultz-Venrath.
„Kollegen waren skeptisch“
Die Psychosomatik – vereinfacht gesagt, die Lehre vom Zusammenhang zwischen psychischer und physischer Gesundheit – ist eine relativ „junge“ Disziplin. „Entsprechend beunruhigt waren die Kollegen, als ich 1999 hier anfing“, erinnert sich der Mediziner. „Sie waren skeptisch, was da auf sie zukommt. Ein Wolkenkuckucksheim? 24 Betten umfasste die Abteilung damals, sie war eine Versorgungseinheit, mehr nicht.“
Der Begriff
Mentalisieren bedeutet, dass wir mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Motiven in Kontakt sind, dass wir diese relativieren und mit Abstand betrachten können und annehmen, dass auch bei anderen Gedanken, Gefühle und Motive bestehen, die deren Verhalten zugrunde liegen und die wir erahnen oder erschließen, aber nie wirklich „wissen“ können.
Die Londoner Arbeitsgruppe um Peter Fonagy und Anthony Bateman hat auf einer empirisch fundierten Grundlage herausgearbeitet, dass die „Fähigkeit, subjektive Neigungen und Motive des oder der anderen und von sich selbst gleichermaßen wahrzunehmen und wertzuschätzen“, bei einer Vielzahl von psychischen Störungen eingeschränkt ist.
Die Grundlagen für die Fähigkeit des Mentalisierens werden in der Kindheit gelegt. „Leider scheint die aktuelle Beschleunigung der Gesellschaft Bindungsstörungen und Misstrauen zu produzieren“, beobachtet Professor Ulrich Schultz-Venrath. „Daraus entstehen psychosoziale Störungen, die sich auch in populistischen und terroristischen Phänomenen äußern können“.
MBT (Mentalization Based Treatment) wurde von dem Psychoanalytiker Peter Fonagy und Anthony Bateman an der Universität London vor etwa 20 Jahren ins Spiel gebracht. Bereits Seit 1996 arbeitet Professor Ulrich Schultz-Venrath mit dieser Londoner Gruppe zusammen. (eck)
Heute hat die Klinik ein eigenes Gebäude mit 92 Betten und einer Tagesklinik, die 18 Patienten aufnehmen kann. Mit seinem Abschied kommen weitere 18 Betten dazu, so dass die Klinik dann über 110 Betten verfügt, „was immer noch zu wenig für die Versorgung von 240 000 Einwohnern ist“. Schritt für Schritt wurde sie bis 2006 aufgebaut: „Monatelang war ich zusätzlich mit Bauvorschriften und manchmal bis in die Nacht mit der Suche nach preiswerteren, aber ansprechenderen architektonischen Lösungen beschäftigt,“ beschreibt der Professor die berufsfremde Nebentätigkeit.
Viel wichtiger war jedoch der Aufbau einer heute international anerkannten Therapieform, die sich Mentalisieren nennt (siehe Kasten). Prof. Schultz-Venrath veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema. Er erhielt für seine Habilitationsschrift einen Nachwuchs-Forschungspreis, lehrt an der Universität Witten-Herdecke und ist Vorsitzender der „Group Section“ in der europäischen Fachgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie (EFPP). Im Mai 2018 organisierte er mit der EFPP einen von 350 Teilnehmern besuchten Kongress in Belgrad zum Thema: „Die Herausforderung sozialer Traumata – Innere Welten äußerer Realitäten“.
Man kann sagen, dass er die Idee von Bergisch Gladbach aus in die deutschsprachige Fachwelt verbreitet hat. „Mentalisieren in Gruppen“ heißt eines seiner Bücher (verfasst mit Helga Felsberger). Das ist das zweite große Thema: Die Gruppentherapie ist Schultz-Venraths professionelles Credo: „Es ist nachweislich die wirksamste und gleichzeitig preiswerteste Methode, psychisch und psychosomatisch Erkrankte zu behandeln. In unserer Klinik und Tagesklinik erhalten fast alle Patienten Gruppenpsychotherapie, und bis auf ganz wenige Ausnahmen profitieren die allermeisten Patienten sehr gut.“ Leider bestehe das Problem, dass es ambulant gar nicht so viele Gruppentherapie-Angebote gebe, die die entlassenen Patienten nach der Klinik nutzen könnten, um psychisch stabil zu bleiben.
Gutachterverfahren als Hindernis
„Mit einem verbesserten Angebot an Gruppenpsychotherapien könnten die langen Wartezeiten für psychisch und psychosomatisch Kranke rasch gesenkt werden,“ meint Schultz-Venrath. Ein großes Hindernis sei das Gutachterverfahren für Gruppentherapeuten, da jeder Therapeut für seine Gruppe mindestens zehn Anträge schreiben müsste, um mit einer Gruppe überhaupt starten zu können. Er kritisiert Gesundheitsminister Spahn, der nicht nur neue Hürden für psychisch Kranke aufgebaut habe, eine Therapie in Anspruch zu nehmen, sondern bisher wenig kreative Kompetenz zeige, das ambulante Problem wirklich zu lösen.
„Das ist eine Situation, die angesichts der steigenden Zahl der Betroffenen nicht zu halten sein wird,“ ist er sicher. Nicht zuletzt deshalb plant er nach seinem Abschied in Köln ein Institut für Gruppenanalyse und mentalisierungsbasierte Gruppenpsychotherapie an der Universität Witten/Herdecke, in dem sich junge Psychologen und Assistenzärzte weiterbilden können. Schultz-Venrath freut sich über die Verwirklichung dieses alten Traums, für den er jetzt ebenso Zeit hat wie für die Vervollständigung seiner Lehrbuch-Reihe „Mentalisieren in Klinik und Praxis“, aber auch über die Implantation seines Modells in anderen Kliniken.
Eine besondere Freude bereiten dem Chefarzt in diesen letzten Tagen ehemalige Patienten, „die einfach nur kommen, um sich zu bedanken, weil ich ihnen das Leben gerettet habe.“ Das tue gut und bestätige ihn.