Drei Millionen Klicks: Die alten Herrschaften aus der Bensberger Videoreihe „Der Ältestenrat“ haben was zu sagen. Das merken auch die Kids.
VideoreiheGeneration TikTok ist begeistert vom Bensberger „Ältestenrat“
„Ich hab' keine Angst vorm Altwerden, hab' ich noch nie gehabt“, sagt Ingrid in die Kamera. „Wenn sich einer grämt, wann werde ich wohl sterben …ist mir doch egal – werd' ich schon früh genug.“ Ingrid ist 94 Jahre alt. Ihr Video läuft quer durch die einschlägigen Social-Media-Kanäle: YouTube, Instagram, Facebook und TikTok. Einen Klick weiter erzählt der 101-jährige Willi, dass er nach Jahrzehnten Ehe zweimal verwitwet ist. „Meine zweite Frau starb 2008“, sagt er. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich so alt werde, hätte ich noch mal geheiratet!“
Hinter der Kamera steht Vahid Zamani. Der 40-Jährige ist Inhaber von „Boundless Productions“ in der Bensberger Schloßstraße und produziert Filme für TV-Sender, Unternehmen und Vereine. „Ich habe mir überlegt, wer im Internet zu wenig vertreten ist und trotzdem viel zu sagen hat“, erklärt er seine Idee vom Projekt „Der Ältestenrat“. Und nun interviewt er gemeinsam mit Kollegin Paula Wehmeyer und Mitarbeiter Pouria Tehranipour Menschen über 70. In Altenheimen, zu Hause, im Park.
Bei YouTube dauern die Videos zwischen acht und 17 Minuten
Ausgerechnet bei TikTok, wo die Nutzer zu 90 Prozent unter 35 sind, sind die Videos am erfolgreichsten. Über drei Millionen Mal wurden sie aufgerufen. 18 000 „folgen“ dem Ältestenrat-Kanal, das heißt, sie haben ihn markiert, um immer wieder hereinschauen zu können. Im Gegensatz zu YouTube, wo die Videos geschnitten zwischen acht und 17 Minuten lang sind, werden bei den anderen Medien jeweils kurze Schnipsel gezeigt.
Antworten auf einzelne Fragen wie: Was hat gut in Ihrem Leben geklappt? Welchen Fehler würden Sie nicht wieder machen? Haben Sie einen Tipp für die Liebe? Oder auch: Welche Zeit war die schönste? „Eigentlich alle“, antwortet Ingrid. „Ich hatte keine schlechte Zeit. Nur schwierige. Wird es denn besser, wenn ich anfange zu jammern? Alles, was ich nicht ändern kann – weg damit!“
Als 30-Jährige, so erzählt die Damenschneiderin, lag sie drei Monate mit Herzmuskelentzündung und Gelenkrheumatismus im Krankenhaus; Folge von Mangelernährung in der Nachkriegszeit. „Der Arzt hat damals gesagt: Mit dem Herzen werde Sie nicht alt“, sagt sie. „Dem würde ich heute gerne mal was sagen.“
„Alle Interviewten waren völlig offen und unbefangen“, sagt Vahid Zamani. „Sie haben es nicht mehr nötig, so zu tun als ob.“ Ein wohltuender Gegenpol zu der, wie er es nennt, „leeren Influencer-Szene im Netz, die von jungen Kunstfiguren mit Fast-Food-Informationen dominiert wird, und wobei es eigentlich nur um Konsum geht“. Hier geht es um das Wesentliche im Leben. So wie bei Doris (74), die Schuldenberaterin war und als Essenz zieht: „Man kann, was wirklich zählt, Beziehungen, Freundschaft, Liebe, nicht kaufen.“
Im Scheinwerferlicht erzählen die alten Menschen ihre Geschichten – und jede davon spiegelt als Momentaufnahme ihr Leben und mit ihm die Zeit wider: Da ist die Geburt des ersten Kindes, der Schulunterricht im Billardzimmer einer Kneipe oder das DDR-Sandmännchen, das auch mal im Panzer vorfuhr. Günther (91) hatte in der Nachkriegszeit Kartoffeln. „Mein Vater reparierte landwirtschaftliche Geräte. Das hat er sich natürlich in Naturalien auszahlen lassen“, berichtet er. „25 Kilometer sind wir mit dem Handkarren dann wieder nach Hause. Er hat gezogen. Ich habe geschoben.“
Manches ist für die meisten Zuschauer kaum mehr vorstellbar: Kriegsgefangenschaft in Remagen mit 200 000 Menschen in selbst gegrabenen Erdlöchern. Die Mutter, die am Tag nach der Geburt ihres 13. Kindes den anderen zwölf bereits wieder Butterbrote schmiert. Das eigene Häuschen, in dem man über den Hof aufs Plumpsklo laufen musste, aber immer so glücklich gewesen sei.
Anderes taugt zur Identifikation: Unbedingt diesen einen Berg erklimmen zu wollen. Als Frau nicht die gleichen Rechte wie als Mann zu haben. Dieser eine Ort, der sich immer wieder in die Träume schleicht. „Ich wäre mal gerne in Afrika gewesen. Ägypten hätte mich so interessiert“, sagt Adele (83) mit von Parkinson zitternden Händen. Dann scheinen ihre Augen in die Ferne zu schweifen und sie flüstert fast: „Der Nil. Der größte Fluss der Welt. Stellen Sie sich mal vor …“
Egal ob sie über Leid oder Freude, Beruf oder Ehe sprechen, im Grunde reden die Ältestenräte über Werte. Über Mut und Willensstärke, Offenheit und Gelassenheit, über Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt, Vertrauen und Herzenswärme „Die Geschichten sind zeitlos“, sagt Zamani. „Nicht: heute dies und jenes, und in zwei Wochen ist das alles wieder irrelevant.“
Und so ist auch der „Rat an die Jugend“ immer von Werten geprägt. „Ehrlichkeit und Geradlinigkeit zogen sich durch sämtliche Interviews“, sagt Zamani. Alle Interviewten wurden in eine Welt geboren, die immer komplexer wurde, aber auch immer mehr Möglichkeiten bereithielt. „Macht euren Weg und lernt“, sagt Anneliese (85) und empfiehlt zu reisen, und zwar nicht pauschal.
Bleibt noch die Frage, ob früher alles besser war. „War das besser? Ich find' das heute schöner“, sagt Adele. „Selbstverständlich finde ich das heute schöner. Dass man überall hinfahren kann, dass man alles mehr begreift heute.“ Auch Anneliese ist sich sicher: „Zu sagen, früher war alles besser, ist der größte Quatsch. Es ist anders — und es wird auch immer anders werden.“
Das Team
Vahid Zamani (Regie, Kamera, Schnitt, Produktionsleitung). Der Diplom-Medienwirt realisiert seit 20 Jahren mit Herz und Seele Filme. Er ist Inhaber von Boundless Productions und hat weltweit Magazinbeiträge, Reportagen und Dokumentationen für das öffentlich-rechtliche Fernsehen sowie Bildungsprojekte und Filme für Unternehmen und Hilfsorganisationen umgesetzt. Er ist ehrenamtlich im Tierschutz bei Animals' Angels e.V. tätig.
Paula Wehmeyer (Autorin, Producerin). Die Schauspielerin arbeitet seit 2012 als Autorin mit Vahid Zamani und gestaltet TV-Produktionen, medienpädagogische Projekte sowie Filme für Non-Profit-Organisationen. Sie hat Erfahrung in sensiblen Interviews, zum Beispiel mit an Krebs erkrankten Patienten. Ehrenamtlich arbeitete sie mit demenzkranken Menschen und unterrichtet seit vier Jahren Schauspiel an der Schauspielschule Köln.
Pouria Tehranipour (Kamera, Ton, Schnitt). Der Azubi zum Mediengestalter in Bild und Ton unterstützt seit 2021 im Unternehmen. Seine Aufgaben Kameraführung und Videoschnitt beim Ältestenrat kommentiert er selbst unter einem der Instagram-Videos mit: „Das schönste Projekt, an dem ich bisher gearbeitet habe.“ Er ist aktives Mitglied bei Amnesty International.
Ausgezeichnetes Projekt
Anfang Dezember wurde der Ältestenrat von der Bundeszentrale für politische Bildung als vorbildlich ausgezeichnet. Bislang wurden für den Ältestenrat zwölf Videos veröffentlicht. Sieben weitere werden noch geschnitten. Das Ziel: Alte Menschen sollen mit dem Format eine zeitgemäße Plattform erhalten, die sie in die gesellschaftliche Wahrnehmung holt, denn sie sind auf den Online-Kanälen völlig unterrepräsentiert. Bei den Interviewten wird eine große Bandbreite an Persönlichkeiten und Umfeld angestrebt. Mittelfristig soll das Format auf ganz Deutschland ausgeweitet werden und auch ein paar Prominente sollen zu Wort kommen.
Zielgruppe sind alle Mediennutzer ab 14 Jahren. Ebenfalls mittelfristig soll sich das Projekt refinanzieren, zum Beispiel durch mehr Aufrufe im Netz und durch Fördermittel. „Wenn es das nicht tut, haben wir wenigstens etwas Sinnvolles getan“, sagt Produzent Vahid Zamani.