Mit einer Vertretung hat das Festival „Literatur am Dom“ in Odenthal-Altenberg begonnen.
Literatur am DomAuftakt in Altenberg mit Texten von Jürgen Becker und Dinçer Güçyeter
Im Schatten der Pavillons haben es sich die Besucherinnen und Besucher gemütlich gemacht und warten auf die Lesung von Jürgen Becker. Es ist der Eröffnungsabend des Festivals „Literatur am Dom“ in Altenberg.
Sema zu Sayn-Wittgenstein betritt die Bühne am Rande des Kräutergartens am Küchenhof und begrüßt das Publikum. Bei ihren einleitenden Worten hat sie allerdings eine schlechte Nachricht zu verkünden: Jürgen Becker geht es gesundheitlich nicht gut und er hat die Lesung in „allerletzter Sekunde“ abgesagt. Der enge Freund und Kollege des Autors, Joachim Sartorius, springt als Ersatz ein, um aus Beckers bisher unveröffentlichtem Manuskript vorzulesen.
Niemand geht wegen der VErtretung von Jürgen Becker
Das Publikum hat angesichts dieser Programmänderung die Möglichkeit, zu gehen und das Geld für die Karten erstattet zu bekommen, doch niemand verlässt seinen Platz. Als Entschädigung sind alle zur zweiten Lesung an diesem Abend eingeladen: Dinçer Güçyeter liest später aus seinem Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“.
Moderatorin Sabine Küchler und Joachim Sartorius sitzen schon bereit. Auch Küchler, die selbst Gedichte schreibt, hat eine Verbindung zu Becker: Beide haben beim Deutschlandfunk gearbeitet, hatten ihre Arbeitsplätze am selben Flur. Hin und wieder haben sie sich über das Schreiben und die Lyrik ausgetauscht. „Wenn man mit Jürgen Becker gesprochen hat, kam man immer begabter wieder als man gekommen ist“, erinnert sich Küchler.
Joachim Sartorius und Sabine Küchler lesen aus Beckers „Nachspielzeit“
Abwechselnd lesen sie und Sartorius aus Beckers „Nachspielzeit“, das bei Suhrkamp erscheinen wird. „Der Titel erinnert schon ans Altern und Verlassensein“, sagt Sartorius und erzählt, dass Becker seine Gefühle über den Tod seiner Frau in das Werk einfließen ließ. So spricht das lyrische Ich von Gewohnheiten, die mit der Zeit entstehen und an die „man sich gewöhnen kann“. Allerdings seien nicht alle Gewohnheiten wiederholbar: „Kein Kopfkissen antwortet auf eine Umarmung“, stellt das lyrische Ich fest.
Nach einer kurzen Pause geht es mit Dinçer Güçyeters „Unser Deutschlandmärchen“ weiter. Güçyeter schreibt eigentlich Gedichte und betreibt seinen eigenen Lyrikverlag, den er finanziert, indem er in Teilzeit als Gabelstaplerfahrer arbeitet. Dass er jetzt einen Roman geschrieben hat, sei nicht geplant gewesen, berichtet er. Er habe einfach getan, was ihm Spaß macht, und seine Verlegerin habe gemeint: „Wir schreiben da einfach Roman drauf, dann verkauft sich das besser“, erzählt er und lacht. Diese Entscheidung zahlt sich nun aus: Der Roman verkauft sich gut und gewann den Preis der Leipziger Buchmesse.
In „Unser Deutschlandmärchen“ beschreibt Güçyeter, angelehnt an den eigenen familiären Hintergrund, die Geschichte einer Einwandererfamilie, die in den 60er Jahren aus der Türkei an den Niederrhein kommt. Er habe viele intensive Gespräche mit seiner Mutter und seinen Tanten darüber geführt, wie sie sich an ihr Leben in Deutschland erinnern. Daher heißt das Buch „Unser Deutschlandmärchen“, nicht nur „Deutschlandmärchen“, betont Güçyeter. So schafft er es, Menschen, die sonst nicht gesehen werden, eine Stimme zu geben. Dabei gelingt es ihm, die Perspektiven dieser Frauen einfühlsam und zart darzustellen, ohne als ihr Stellvertreter aufzutreten.
In der bunten Wucht seiner Worte wird auch viel Wut spürbar: Über Kämpfe, die besonders die Frauen in dem für sie neuen Land, führen. Über alltäglichen Klassismus, Sexismus und Rassismus, mit dem sie konfrontiert sind. Aber auch die Wut über eine Rolle, die ihm zugeschrieben wurde, mit der sich Güçyeter wohlfühlen sollte, es aber nicht tat – bis er schließlich aus ihr ausbrach. Er wollte die Welt außerhalb der Arbeiterklasse kennenlernen, auch wenn er von ihr viel gelernt habe. Er zitiert einen Satz der Pop-Sängerin Lady Gaga, mit dem er sich identifiziere, egal in welcher „Gosse“ er sich aufhalte: „Ich war schon immer berühmt, nur wusste das keiner.“ Mit der Entscheidung, zu schreiben und den Verlag zu gründen, trat er in die Fußstapfen seines Vaters, dem Spaß am Leben immer wichtiger war als die Arbeit.