Letzter Schritt GelenkersatzWann Gladbacher Orthopäden zur OP raten – und wann nicht
- Laut einer Statistik der KKH Kaufmännische Krankenkasse stieg die Zahl der Operationen, bei denen Patienten ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk eingesetzt wurde, zwischen 2008 und 2018 bundesweit um jeweils 31 Prozent.
- Birgit Eckes sprach darüber mit Dr. Gereon Schiffer, Chefarzt der Orthopädie am Vinzenz Pallotti Hospital Bensberg und Dr. Andreas Schmidt, Chefarzt der Orthopädie am Marien-Krankenhaus Bergisch Gladbach.
Herr Schiffer und Herr Schmidt haben Sie entsprechende Zahlen für das Marien-Krankenhaus (MKH) und das Vinzenz Palotti Hospital (VPH)?
Schiffer: In den Kliniken für Orthopädie und Unfallchirurgie des VPH und MKH mit Endoprothesenzentrum sind die Zahlen in den letzten Jahren relativ stabil. Dies ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass wir nicht ausschließlich auf die Implantation von Kunstgelenken ausgerichtet sind. Wir sehen das künstliche Knie- oder Hüftgelenk immer als letzten Schritt, falls alle konservativen (Krankengymnastik, Gewichtsreduktion, Schmerztherapie) oder kleineren operativen Maßnahmen keine zufriedenstellende Situation erbracht haben.
Was ist aus Ihrer Erfahrung der Grund für den sprunghaften Anstieg? Liegt es daran, dass die Menschen immer älter werden?
Schmidt: Das ist richtig. Parallel dazu steigen aber auch die Ansprüche vieler Patienten. Es kommt nicht selten vor, dass Patienten mit Kniebeschwerden nach einer Zehn-Kilometer-Wanderung mit der Frage der Knieprothese auf uns zukommen. Hier müssen wir mitunter überzogene Erwartungen dämpfen. Gleichzeitig darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Medizin sich weiterentwickelt. Das Narkoserisiko wird geringer, Implantate langlebiger.
Auffallend ist laut der KKH-Auswertung allerdings, dass die Patienten immer jünger werden. Unter den 45-59-Jährigen haben 2018 doppelt so viele Männer und 44 Prozent mehr Frauen ein künstliches Kniegelenk erhalten als 2008.
Schiffer: Der 50-jährige Patient mit einem nachgewiesenen schweren Gelenkverschleiß erhielt noch vor 10-15 Jahren die Auskunft, er sei schlichtweg „zu jung“ für ein Kunstgelenk und wurde meist kategorisch abgewiesen. Aus der Sicht des (noch) aktiven und fitten Menschen kann dann aber die Frage gestellt werden: „Soll ich jetzt 20 Jahre schlecht leben und auf jede Bewegung verzichten, um mir mit 70 ein Knie einbauen zulassen, dass mir dann kaum noch nützt?“
Je früher ein Gelenk ersetzt wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es erneut ausgetauscht werden muss. Nach Darstellung der Krankenkasse sind Wechseloperationen oft aufwendiger als Ersteingriffe und führen häufiger zu Komplikationen. Stimmt das?
Schmidt: Dies ist grundsätzlich richtig, auch wenn die Industrie mittlerweile auch für diese Wechselsituationen immer komplettere und individuell anpassbare Lösungen anbietet. Aus diesem Umstand eine kategorische untere Altersgrenze abzuleiten, ist jedoch, wie oben ausgeführt, sicherlich nicht akzeptabel.
In einer Untersuchung der Universität Witten/Herdecke heißt es unter anderem, drei von vier Knieprothesen-OPs und fast jede zweite Hüftprothesen-OP hätten sich als vermeidbar erwiesen. Demnach wurde die OP-Empfehlung bei Kniegelenken für lediglich 26 Prozent der Fälle bestätigt, bei Hüftgelenken für 57 Prozent. Können Sie das bestätigen?
Schiffer: Die Studie liefert auf den ersten Blick recht erschreckende Ergebnisse, die allerdings mit Vorsicht zu genießen sind und von uns so nicht bestätigt werden können. Es wurden im Nachhinein nur Patienten betrachtet, die sich aus eigenem Antrieb in einem Internetportal um eine Zweitmeinung bemüht haben. Man kann also davon ausgehen, dass diese Stichprobe nicht repräsentativ ist.
Schmidt: Letztlich muss man jedoch feststellen, dass nicht alle Indikationen absolut klar sind. Die Zweitmeinung hat vor allem bei Grenzfällen (junger Patient, nur geringe radiologische Veränderungen, keine vollständige Ausschöpfung der konservativen Behandlung) ihre Berechtigung.
Was ist die Konsequenz aus diesen Zahlen?
Schiffer: Der menschliche Gelenkknorpel ist ein Wunder der Natur und hat nur einen kleinen Nachteil: Knorpelzellen sind nicht teilungsfähig. Fehlt der Knorpel durch Unfall oder Abnutzung und Verschleiß, hat der Körper keine Möglichkeit zur Regeneration. Auch ärztlicherseits kann kein vollwertiger Ersatz herbeigeführt werden. Der künstliche Gelenkersatz von Hüfte und Knie ist dann eine der segensreichsten Prozeduren in der Medizin. Die Zahlen der letzten Jahre zeigen allerdings auch, dass es zu einer Ausweitung der Operationsindikationen gekommen ist, die sicherlich kritisch betrachtet werden muss.
Was heißt das?
Schmidt: Nicht jede Schmerzhaftigkeit und nicht jeder im Röntgenbild erkennbare Verschleiß muss mit einer Kunstgelenk-Operation beantwortet werden. Sämtliche zur Verfügung stehenden konservativen Maßnahmen müssen ausgenutzt werden, bevor ein Gelenkersatz in Erwägung gezogen werden sollte. Aus unserer Sicht ist es ärztliche Aufgabe, den Patienten so kundig zu machen, dass er die Entscheidung mit ärztlicher Unterstützung für sich treffen kann.