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Kampf um ErhaltGrass-Kastanie in Bergheim ist an ihrem Zenit angekommen

Lesezeit 4 Minuten
Zu sehen ist der Baum und dahinter die Aussicht auf Oberaußem.

Die Grass-Kastanie ist wie ein Wahrzeichen des Stadtteils Oberaußem.

Es stehen umfangreiche Maßnahmen an, um die berühmte Grass-Kastanie in Oberaußem zu revitalisieren. Ewig leben wird sie aber nicht.

Die berühmte Grass-Kastanie wird sterben. Darüber macht sich Bernd Gützlaff keine Illusionen. Trotzdem setzt er sich mit dem Stadtteilforum Oberaußem dafür ein, dass sie so lange erhalten bleibt wie möglich, und kann dafür auf die Unterstützung der Stadt zählen. Dementsprechend stehen einige Maßnahmen an, um den Baum zu revitalisieren, sagt Ortsbürgermeister Hans-Josef Weck: „Dazu gehört das Abstützen des herausragenden Astes, der Probleme macht.“

Die Pressestelle der Stadt Bergheim bestätigt, dass die Wurzeln mit baulichen Veränderungen am Treppenaufgang mehr Platz bekommen sollen. Außerdem soll der Boden aufgewertet werden. Bevor das umgesetzt werden kann, stehe aber eine Untersuchung an, die die Nährstoffverfügbarkeit im Boden prüfen soll. „Das Einfangen der Rosskastanienminiermotte erfolgt ebenfalls in großem Stil durch aufgestellte Fallen“, heißt es.

Eine Kastanie wird nicht mehrere 1000 Jahre alt

Ortsbürgermeister Weck ist zuversichtlich: „Der Baum wird uns noch alle überleben.“ Aber letztlich kann ein Baum nur die Jahrhunderte überdauern, die seiner Art gegeben sind. Und unter den gegebenen Umständen dürfte sie mit den 180-200 Jahren, auf die die Pressestelle der Stadt die Grass-Kastanie schätzt, allmählich an ihrem Zenit angekommen sein. „Eine Kastanie wird nicht mehrere 1000 Jahre alt“, sagt Gützlaff.

Drei Männer stehen vor einem Geländer unter dem Baum, dahinter die Aussicht auf Oberaußem.

Ortsbürgermeister Hans-Josef Weck (l.) Bernd Gützlaff und Peter Brüggen vom Stadtteilforum Oberaußem.

Vielleicht ist der fairste Umgang mit einem Baum also, ihn als Lebewesen zu betrachten, der sich selbst gehört und für sich selbst stirbt. Die Autorin Marion Poschmann beschreibt in „Laubwerk“, sie habe jahrelang versucht, einen Baum zu schreiben, der zwar irgendwo für einen vagen Naturbegriff steht, in erster Linie aber in seiner Baumhaftigkeit herauskommen und nicht für etwas anderes stehen soll.

Die Kastanie ist nach dem Schriftsteller Günter Grass benannt

Aber dass man dafür Jahre braucht, ist auch ein Hinweis darauf, dass Bäume jenseits ihres ökologischen Wertes etwas für Menschen bedeuten. Sie sind Lieblingsorte, als Orientierungspunkte geben sie Straßen einen Namen und sie haben kulturgeschichtliche Bedeutung. Dafür ist die Kastanie auf dem erhöhten Oberaußemer Friedhof ebenfalls ein Beispiel, sie ist nach Günter Grass benannt. Eine Bronzetafel weist darauf hin, dass der Autor vom Friedhof aus das Braunkohlerevier des Erftlands beobachtet hat, und diese Aussicht fand letztlich Erwähnung in seinem bekanntesten Werk: „Die Blechtrommel“.

Die Plakette lobt eine Aussicht über das Braunkohlerevier des Erftlandes und ist aus Bronze.

Eine Plakette weist auf eine Passage aus „Die Blechtrommel“ hin, in der Günter Grass die Aussicht in Oberaußem beschreibt.

Dabei ist auch das, was er dabei beschrieben hat, ebenfalls schon Geschichte. Die dampfenden Kamine des Werkes Fortuna, die Mittelgebirge der Schlackenhalden mit Drahtseilbahnen und Kipploren darüber sind nicht mehr zu sehen. 

Zeitweise war die Treppe zum Friedhof wegen des Baumes gesperrt

Für Beständigkeit sorgte eben die Grass-Kastanie, wobei sie in der Vergangenheit durchaus mit der Aussicht in Konkurrenz trat. Die Treppe hinauf zum Oberaußemer Friedhof wurde 2012 wegen Gefahr eines Astbruches für einige Zeit gesperrt. Damals war der Gedanke noch: entweder der Baum oder die schöne Aussicht. Trotzdem ergab eine Bürgerbefragung, dass der Baum erhalten bleiben soll. Der Kompromiss war, ihn zurückzuschneiden. Erst 2018 wurde die Treppe wieder freigegeben. „Nach langem Kampf“, sagt Hans-Josef Weck.

Für die Argumentation sei entscheidend gewesen, dass es in diesen Jahren auch Stürme gegeben habe, ohne dass es zu Astbrüchen gekommen sei. „Es ist wahrscheinlich der meist untersuchte Baum in Bergheim“, sagt Gützlaff. Die Gefahr, dass hier etwas passiert, schätzen Weck und er als verschwindend gering ein. Auch die Pressestelle der Stadt erkennt kein Risiko für die Besucherinnen und Besucher: „Der Baum wird in regelmäßigen Abständen intensiv kontrolliert sowie alle zwei Jahre einer eingehenden Untersuchung unterzogen.“ 

Die Mühe, die sich die Stadt und das Stadtteilforum Oberaußen machen, verdeutlicht: Die Grass-Kastanie ist unersetzlich. Sie war schon vor ihrem Namensgeber auf der Welt, hat ihn überlebt und auch die Aussicht, die er beschrieb. „Sie ist ein Wahrzeichen von Oberaußem“, sagt Bützlaff. Aber sie ist, auch wenn man es bei ihrer Größe und Bedeutung kaum glauben kann, auch sterblich. 


Günter Grass (1927-2015) war ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker. Grass gehörte seit 1955 zur Gruppe 47 und wurde mit seinem Debütroman „Die Blechtrommel“ 1959 zu einem international geachteten Autor der deutschen Nachkriegsliteratur.

Grass’ Werk und Rolle als Autor und politischer Intellektueller war und ist Gegenstand umfangreicher Forschung sowie des Medieninteresses im In- und Ausland. Seine zentrale Motivation war der Verlust seiner Heimat Danzig und die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die sich vielfach in seinen Werken widerspiegelt. Seine Popularität als Schriftsteller nutzte er häufig, um das politische und gesellschaftliche Tagesgeschehen öffentlich zu kommentieren. Im Jahr 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.