2014 wäre Marc Groß aus Frechen beinahe auf Mallorca ums Leben gekommen. Nach einem Balkonsturz lag er wochenlang im Koma, es gab kaum Hoffnung für ihn. Doch er schaffte es zurück ins Leben.
KomaMallorca-Urlaub wird für Frechener zum Horror – So kämpft sich Marc Groß ins Leben zurück
„Es geht los, WM auf Malle feiern“ – mit diesem Post in den sozialen Medien teilten 14 Jungs aus Frechen am 13. Juli 2014 ihr Glück mit der ganzen Welt. Im Stadtsaal hatten sie gemeinsam den legendären Sieg der deutschen Nationalmannschaft gesehen, und anschließend ging es vom Flughafen auf die Baleareninsel.
Mit dabei auch Marc Groß, ein lebenslustiger und charmanter, blonder Zwanzigjähriger, sportlich und der Beste in seinem Ausbildungsjahrgang. Alle strahlen voller Vorfreude in die Kamera – nicht ahnend, dass einer von ihnen nur wenige Stunden später mit dem Tod kämpft, sie ohne einen ihrer Freunde zurückfliegen und dass sich das Leben einer Frechener Familie für immer auf tragische Weise verändern wird.
Frechen: So erfährt Marcs Familie von dem Unglück
Es ist fünf Uhr morgens am 15. Juli, als es bei Familie Groß an der Haustür klingelt. Heiner Groß ist auf dem Weg zur Frühschicht und denkt zuerst, er hätte falsch geparkt, als er die Haustür öffnet und die Polizisten sieht. „Es geht um Marc, es gab einen schlimmen Unfall, er kämpft mit dem Tod“ – diese fürchterliche Botschaft übermitteln die Beamten.
Unter Schock weckt er seine Frau, und kurze Zeit später sind beide nur mit Handgepäck auf dem Weg zum Flughafen. Sie buchen den ersten Flug nach Mallorca, springen dort in ein Taxi und eilen zu ihrem Sohn ins Krankenhaus nach Palma. Da liegt Marc, braun gebrannt, äußerlich fast unversehrt, mit geschlossenen Augen in einem Bett im Koma auf der Intensivstation – und schwebt in akuter Lebensgefahr.
Warum wurde nach dem Sturz noch mit seinem Handy telefoniert?
Am frühen Morgen, um 3.20 Uhr, hörte der Nachtportier des Hotels, in dem die Frechener untergebracht waren, einen furchtbaren Schlag. Aus 10 bis 15 Metern Höhe war Marc Groß aus dem Hotel von einem Balkon in die Tiefe gestürzt – die Ursache ist bis heute nicht wirklich geklärt, die Umstände bleiben rätselhaft.
Warum wurde nach dem Sturz noch mit seinem Handy telefoniert? Warum standen seine Schuhe auf einer anderen Etage? Warum wurde sein Telefon nach Gebrauch mit einem Wasserschaden außer Funktion gesetzt? Woher kam die Schürfwunde am Kinn, die nicht vom Sturz stammen konnte? Warum meldeten sich Zeugen nie wieder?
Klar ist nur, der 20-Jährige hatte schwerste Verletzungen, unter anderem einen doppelten Schädelbasisbruch, Hirnblutungen, gebrochene Wirbel und war bis zur Wiederbelebung zehn Minuten lang ohne Sauerstoff. Die Ärzte machten den Eltern nicht viel Mut.
Immer wieder gibt es Rückschläge und Komplikationen
Dreimal am Tag dürfen sie ihren Sohn für 15 Minuten besuchen, sitzen an seinem Bett, sprechen mit ihm, spielen ihm Lieder vor – aber sein bedrohlicher Zustand verbessert sich nicht. Im Gegenteil, immer wieder gibt es Rückschläge, Lungenentzündungen und andere Komplikationen, die die beiden verzweifeln lassen. Doch in der ganzen Trauer und Sorge gibt es auch Momente, die Marcs Mutter und sein Onkel Heribert Foik noch heute nur mit leiser Stimme und Tränen in den Augen erzählen können.
Da sind die Nachbarn in Frechen, die spontan Geld sammeln und der 17-jährigen Tochter Angelina einen Umschlag mit Bargeld in die Hand geben, als sie nach Palma aufbricht. „Sie musste über Nacht erwachsen werden.“, seufzt Angelika Groß. Da ist der pakistanische Besitzer eines Bistros, der den Eltern auf Mallorca eine Wohnung zur Verfügung stellt, obwohl sie ihn gar nicht kennen. Da ist die Mitbewohnerin Esperanza, was auf Deutsch „Hoffnung“ heißt oder die heute noch währende Freundschaft mit der Polizistin, die in Frechen die Schreckensnachricht überbrachte und sich mit ihren Spanischkenntnissen sofort an das Krankenhaus Palma wandte.
Mit der FC-Hymne: Nach fünf Wochen geschieht ein Wunder
Das Wichtigste aber: Die verzweifelten Eltern sind nie alleine, die Familie steht wie so oft zusammen, Freunde kommen nach Mallorca und es werden viele Telefonate in die Heimat geführt.
Und dann geschieht nach fünf harten Wochen endlich ein Wunder: Angelika Groß spielt ihrem Sohn, einem leidenschaftlichen FC-Köln-Fan, die Hymne seines Fußballvereins vor. „Plötzlich schoss er in die Höhe und ließ sich direkt wieder ins Bett fallen, ich habe mich so erschrocken“, berichtet sie bewegt. „Abends hatte er dann die Augen auf, aber Reaktionen gab es immer noch keine.“
Nach drei Monaten auf der Intensivstation darf Marc dann auf die Normalstation, nach wie vor sind seine Prognosen aber schlecht, zudem ist eine Querschnittslähmung diagnostiziert. „Ich habe immer an Marc geglaubt“, sagt seine Mutter überzeugt. „Er folgte den englischen Anweisungen des Physiotherapeuten, also musste da doch noch etwas sein.“ Sie wacht tagsüber im Krankenhaus, ihr Mann verbringt dort die Nächte.
An Heiligabend darf Marc Groß erstmals für eine Nacht nach Hause
Nach weiteren zermürbenden Tagen auf der Normalstation organisiert ihr Bruder Heribert von einem Tag auf den anderen einen Rückflug, begleitet von einem Arzt. Marc, der mit 1,85 Metern Größe nur noch 52 Kilogramm wiegt, kommt zuerst in die Uniklinik Köln, dann in Spezialkliniken nach Bochum und Bonn. An Heiligabend darf er erstmals für eine Nacht nach Hause: „Als wir in unsere Straße reinfuhren, standen alle Nachbarn mit Ballons vor ihren Häusern und haben ihn willkommen geheißen, das war unglaublich“, erinnert sich Angelika Groß gerührt. Ob Marc dies verstanden hat, weiß niemand.
Im August 2015 holten ihn seine Eltern ganz nach Hause, die Behandlung in der Klinik erschien ihnen nicht ausreichend, Marc macht dort Rück- statt Fortschritte. Ein Treppenlift wurde ein- und das Bad umgebaut, Zimmer getauscht und der Eingang rollstuhlgerecht aufbereitet.
Die Familie organisiert Therapien und Arztbehandlungen, das ganze Leben dreht sich nun um die Betreuung von Marc „Ich musste ein neues Leben anfangen, alles neu lernen, wie eine neue Ausbildung“, reflektiert seine Mutter. Tagsüber weicht sie Marc nicht von der Seite, nachts schaut sie im Internet Videos, um Pflegetipps zu lernen. „Es war und ist ein 24-Stunden-Job, ich kann meine Schwester gar nicht genug bewundern.“, resümiert Heribert Foik.
„Fast jeden Tag bin ich mit ihm im Rollstuhl ins Eiscafé gefahren“
„Fast jeden Tag bin ich mit ihm im Rollstuhl ins Eiscafé gefahren, auch wenn keine Reaktion kam, habe ich dort stundenlang mit ihm geredet. Wir wollten ihn immer mitten im Leben haben. Eines Tages war ich so müde, dass ich still war. Und plötzlich sagt er, es mache heute gar keinen Spaß mit mir, weil ich ja gar nicht mit ihm reden würde.“
Es sind diese wenigen Momente, die alle weiter an Marc glauben lassen – so schwer der Weg auch ist. Neben gesundheitlichen Komplikationen, mühsamen kleinen Verbesserungen ist da auch das aufreibende Ringen mit Krankenkassen und Behörden, die sein Onkel mit viel Ausdauer und Einsatz führt. „Wir mussten immer um alles kämpfen“, berichtet er.
Erst nach fünf Jahren meldet sich ein Mitreisender bei der Polizei
Und dann, nach fünf Jahren, meldet sich 2019 plötzlich ein Mitreisender bei der Kriminalpolizei und gibt an, Marc damals vom Balkon geschubst zu haben, da Stimmen in seinem Kopf ihm dies befohlen hätten. „Der Prozess hat lange gedauert und ist bei höchster Instanz im Nichts geendet, weil der Junge für unzurechnungsfähig erklärt wurde“, berichtet Angelika Groß, „ob das alles wahr war?“. Der Prozess wurde 2022 eingestellt. Aufwühlend und ermüdend sei dies gewesen und habe der Familie nichts gebracht.
Für sie ist nach wie vor der familiäre Zusammenhalt extrem wichtig und die erstaunlichen, von den behandelnden Ärzten nicht für möglich gehaltenen Fortschritte, die Marc mit viel Geduld und Zuwendung seiner Familie schaffen konnte. Seit 2017 sind Verbesserungen seines Zustands zu erkennen, der Marathon aus Üben, Behandlungen und Liebe zeigt Erfolge. „Wir gehen unseren eigenen Weg mit Marc, ich habe allen Zweiflern das Gegenteil bewiesen“, sagt seine Mutter.
Heute, neun Jahre nach dem Sturz, ist er trotz seiner Querschnittslähmung und erheblicher gesundheitlicher Probleme alleine mit seinem Rollstuhl unterwegs, fährt zum Friseur und zum Einkaufen sowie auf ein Bier in den Ratskeller. Er stemmt Gewichte, legt Wert auf gutes Styling und geht mit seiner Schwester Angelina zum FC. „Seit einem Jahr bin ich wieder verstärkt unternehmungslustig“, erzählt der heute 29-Jährige stolz, und sein spitzbübisches Lächeln blitzt auf. „Mein ganz großes Ziel ist es aber, wieder laufen zu können.“ Alleine zu stehen, hat er schon geschafft.
Erinnern kann Marc sich an den Vorfall auf Mallorca nicht, aber er hat ihn auf seinem linken Oberarm als Tattoo verewigt – dort ist eine große Uhr mit der Zeit seines Sturzes zu sehen und eine Treppe, die in die Wolken führt und auf der ein Junge in den Himmel unterwegs, aber auf halber Strecke stehen geblieben ist. Marc nennt es „Einmal Himmel und zurück.“