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„Kritik belastet die Kranken nur“Frechener Seniorenzentrum geht neue Wege bei Demenz

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Im Seniorenzentrum St. Elisabeth werden auch sogenannte Tovertafeln eingesetzt, die für Menschen mit Demenz entwickelt wurden.

Frechen – Die Franziska-Schervier-Altenhilfe mit Heimleiter Kristof Klitza geht in den Seniorenzentren St. Elisabeth in Frechen und Herz Jesu in Köln neue Wege bei der Pflege der Heimbewohner mit Demenz – sie verwirklicht als erste Einrichtung des Landes das Konzept der Selbsterhaltungstherapie. Mit Klitza sprach Wolfgang Stiller.

Herr Klitza, Corona hat den Pflegenotstand überall in Deutschland wie unter einem Brennglas deutlich gemacht: fehlende Heimplätze, Personalmangel, Kosten- und Zeitdruck. 3,4 Millionen Senioren und 765 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in etwa 14 500 deutschen Altenzentren haben gerade mit der Pandemie unter zusätzlichen Sicherheitsauflagen schwer zu leiden. Wie wollen Sie gerade jetzt in der Krise die Pflege von Menschen mit Demenz entscheidend verbessern?

Klitza: Sicher, auch wir hätten uns tatsächlich bessere Bedingungen gewünscht. Doch Krise hin, Krise her: Schon länger ist vielen Experten klar, dass sich in der Betreuung älterer Menschen – gerade mit Demenz – qualitativ etwas grundlegend ändern muss. Bis 2050 müssen wir in Deutschland mit einem Anstieg von derzeit rund 1,6 Millionen auf bis zu 2,7 Millionen demenzkranken Senioren rechnen. Das Problem Demenz wächst mithin gewaltig. Und damit müssen wir angemessen klar kommen. Bei der Suche nach dem geeigneten Pflege- und Betreuungskonzept haben wir uns bereits 2017 für die Selbsterhaltungstherapie, kurz SET, entschieden. Die zwei Jahre Einführungsarbeit haben wir jetzt im Mai 2020 mit einem sehr erfolgreich bestandenen Zertifizierungsaudit abgeschlossen. Und das trotz Corona-Krise.

Wie sind Sie auf das SET-Konzept gestoßen?

Die Anregung kam vom Seniorenpflegeheim St. Bilhildis in Mainz, das auch zur Franziska-Schervier-Altenhilfe gehört. Jenes Heim arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit sehr gutem Erfolg nach dem SET-Konzept. Wir haben von den Erfahrungen profitiert, die uns Günther Robl als Leiter bei der Umsetzung des Konzepts in Mainz hier in Frechen und Köln vermittelt hat.

Die Initiative

Das Seniorenzentrum St. Elisabeth liegt im Park Villa Pauli, dem größten öffentlichen Park in Frechen. Die Initiative Park Villa Pauli will die denkmalgeschützte Anlage im Stil eines englischen Landschaftsparks erhalten. Die Franziska-Schervier-Altenhilfe kann das aus eigenen Mitteln nicht leisten. Kontakt unter 02234/966210. (ws)

klitza@schervier-altenhilfe.de

Was bedeutet Selbsterhaltungstherapie?

Das Konzept, das die Neuropsychologin Dr. Barbara Romero vor etwa 30 Jahren entwickelte, hat einen einfachen, überzeugenden Grundgedanken: Menschen mit Demenz brauchen unsere Unterstützung, um ihre verbliebenen Fähigkeiten im Alltag zu nutzen und länger im Leben zu erhalten. Wichtig ist, zu erkennen, was ein Mensch noch kann und gern macht, um seine entsprechenden Möglichkeiten im Alltag zu sichern. Wichtig ist auch zu wissen, was die Person nicht mehr kann, um eine Überforderung zu vermeiden. Wichtig ist schließlich eine Anpassung der Umgangsformen, um die Selbstsicherheit und den Selbstwert der Bewohner zu unterstützen.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Kritik hilft den Kranken nicht weiter, sondern belastet sie. Ein Lob, eine Zustimmung („Du hast völlig recht“), eine geschickt angebotene Hilfe, die den Betroffenen nicht bloßstellt, stabilisieren die Stimmung und das Vertrauen. Wenn eine Bewohnerin unbegründet bei der Tochter klagt, dass niemand sie besuche, ist es besser zu sagen „Ich habe dich auch schon sehr vermisst“ als die Aussage zu korrigieren: „Was erzählst du, das stimmt doch gar nicht!“

Profitieren davon allein die Heimbewohner?

Deren Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden haben eindeutig Priorität bei allen Bemühungen. Aus diesem Grund vermeiden wir tunlichst Konflikte, bestätigen gern die Sichtweise der Bewohner, stärken das Selbstvertrauen des Einzelnen und sorgen mit Beschäftigungsprogrammen und Tagesgestaltung dafür, dass sie oder er am Alltag bestmöglich teilnehmen oder teilhaben kann. Die sensible achtsame Kommunikation bei jeder Begegnung sowie die individuelle Anpassung der Aktivitäten und Erlebnismöglichkeiten stellen das Heimpersonal vor mannigfaltige Herausforderungen. Das ist bei aller Ausbildung kein Selbstläufer für die Mitarbeiter. Sie werden im Rahmen des SET-Konzeptes dazu angehalten, sich jeweils individuell auf jeden Bewohner einzustellen, ihn nicht zu über-, aber auch nicht zu unterfordern. Wenn das gelingt, erfährt der Mitarbeiter selbst Bestätigung und Anerkennung, fühlt sich motiviert. Nach unserer Erfahrung bietet die Selbsterhaltungstherapie die Chance für eine Win-win-Situation aller Beteiligten: der Bewohner, des Personals, der Angehörigen, wenn – das ist die Voraussetzung – das gesamte soziale Umfeld stimmig auf die Bedürfnisse des Individuums angepasst wird.

Wurde dieses SET-Konzept denn schon in die Praxis umgesetzt?

Ja, vor allem in mehreren Krankenhausstationen. Besonders bekannt wurde dabei das 1999 gegründete Alzheimer-Therapiezentrum im bayerischen Bad Aibling. Im Heimbereich liegen die bereits erwähnten sehr guten Erfahrungen des Mainzer Pflegeheimes St. Bilhildis vor. In Nordrhein-Westfalen sind wir die ersten beiden Einrichtungen mit diesem Ansatz – eine echte Premiere in NRW. Als Regionalleiter der beiden Senioreneinrichtungen beschäftige ich mich intensiv seit Herbst 2017 mit der Einführung des SET-Konzepts in St. Elisabeth in Frechen-Königsdorf und Herz Jesu in Köln, mit zusammen 198 Bewohnern. Das Konzept wurde mit einem großen Engagement von allen Mitarbeitern, von Herrn Robl und auch mit Unterstützung von Frau Dr. Romero in wohlgemerkt allen verfügbaren Wohnbereichen, eingeführt. Und nun bekommen wir endlich auch das Gütesiegel, nämlich die Zertifizierung: in beiden Häusern jeweils mit Auszeichnung. Darüber sind wir alle und auch unser Träger, die Franziska-Schervier-Altenhilfe, sehr erfreut und stolz.

Würden Sie das SET-Konzept weiteren Pflegeheimen in Deutschland empfehlen?

Auf jeden Fall. Das Konzept ist fachlich gut fundiert. Unsere Erfahrungen mit der Anwendung sind, ähnlich wie im Mainzer Heim, sehr positiv. Doch der Weg vom Konzept zur Umsetzung verlangt dem Mitarbeiterteam einiges ab. Es sind Schulungen notwendig, Anpassungen der Betreuungskonzepte und der Dokumentation. Besonders wird auf die Zusammenarbeit mit den Angehörigen wert gelegt. Ärzte, Ergo- und Physiotherapeuten, Krankenhäuser, Apotheken, stationäre Einrichtungen und hausinterne Aktivitäten sollen im Idealfall koordiniert zusammenarbeiten, um Therapie, Betreuung und Behandlung aufeinander abzustimmen. Diese Integrationsarbeit ist notwendig, auch machbar, jedoch nicht zu unterschätzen. Und das alles muss schließlich mit knappem Personalschlüssel neben dem laufenden Betrieb verwirklicht werden. Am Ende aber sehe ich nur Vorteile für alle. Denn auch meine Mitarbeiter fühlen sich insgesamt zufriedener, wenn sie ein wenig mehr Zeit für die Bewohner übrig haben, Bewohner sich wohler fühlen und mit weniger Medikamenten auskommen, verständnisvolle Angehörige Lob statt Beschwerden aussprechen. Das hilft uns auch bei der grundsätzlich schwierigen Personalgewinnung – glauben Sie mir. Mehr Geld bekommen wir nicht dafür. Doch ich würde diese Arbeit im Rückblick wieder machen. Es lohnt sich wirklich. Ich kann nur Verantwortliche anderer Heime einladen, um sich selbst zu überzeugen. Herzlich willkommen.