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„Eine Welt zusammengebrochen“In Hürth verunglückter Junge wäre jetzt 16 Jahre alt

Lesezeit 4 Minuten

Jeden Tag besucht Tanja Brüggen das Grab ihres Sohns. Ihr Lieblingsfoto zeigt Tufan im Türkei-Urlaub.

Hürth – Manchmal sitzt Tanja Brüggen abends auf der Couch und hofft, dass die Kinderzimmertür aufgeht, ihr Sohn Tufan heraustritt und sich zu ihr setzt, um über den Tag zu reden oder gemeinsam einen der Anime-Filme anzuschauen, die der junge Asien-Fan so liebte. So war es früher oft. Doch dann wird ihr schmerzlich bewusst, dass es so nie wieder so sein wird. Der 15-jährige Junge wurde am 7. Dezember 2021 bei einem Verkehrsunfall aus dem Leben gerissen. Seitdem ist für die 34-jährige alleinerziehende Mutter kaum noch etwas so, wie es einmal war.

Tufan war an diesem Tag mit zwei Freunden auf dem Fahrrad unterwegs. „Er ist sonst immer mit dem Bus zur Schule gefahren“, sagt Tanja Brüggen. Weil Tufan, Neuntklässler am Ernst-Mach-Gymnasium, aber nachmittags zu einer Geburtstagsparty wollte, habe er das Fahrrad genommen, das er erst einige Wochen zuvor zum Geburtstag bekommen hatte.

Hürth: Polizeibeamte ließen die Mutter nicht bis zur Unfallstelle vor

Gegen 14 Uhr geschah das Unglück. Tufan wollte an der Ampel auf dem Rad die Straße überqueren und geriet unter einen Lastzug, der an der Kreuzung von der Frechener Straße nach rechts abgebogen war. Beide hatten laut Zeugenaussagen grünes Licht. Der Lkw-Fahrer bemerkte den Unfall zunächst nicht und wurde erst Hunderte Meter weiter gestoppt.

Die Mutter eines der Freunde, die den Unfall mitansehen mussten, habe sie angerufen, sagt Tanja Brüggen. Sie solle schnell herkommen, Tufan sei von einem Lastwagen angefahren worden. Ein Freund habe sie hingefahren. Polizeibeamte hätten sie nicht bis zur Unfallstelle vorgelassen. „Aber als ich von weitem die Plane auf der Straße gesehen habe, wusste ich, dass etwas Schlimmes passiert ist.“

Tufans Mutter fand bei ihrer Familie Halt

Die Notärztin habe ihr gesagt, dass Tufan sofort tot gewesen sei und nichts mitbekommen habe. Trösten konnte das die Mutter kaum: „Für mich ist in dem Moment eine Welt zusammengebrochen.“ Ein Notfallseelsorger habe ihr Hilfe angeboten, sagt sie. „Aber ich wollte nicht mit ihm sprechen.“ Mehrere Stunden verbrachte sie auf der Straße, bevor man sie nach Hause geschickt habe.

Halt gefunden habe sie zunächst bei ihrer Familie, sagt Tanja Brüggen. Ihre Mutter zog für acht Wochen zu ihr und ihrem zweiten Sohn nach Gleuel. Taylan ist ein Jahr jünger als Tufan, er hat eine schwere Behinderung und spricht nicht. Seine Mutter weiß nicht genau, ob er verstanden hat, dass Tufan, der sich rührend um seinen Bruder gekümmert hat, nicht wiederkommt. Aber auch bei ihr selbst habe es gedauert, bis ihr das wirklich klar geworden sei.

Mutter liest ihrem Sohn am Grab aus Briefen vor, die Klassenkameraden geschrieben haben

Die Beerdigung am 20. Dezember sei der schwerste Tag in ihrem Leben gewesen. „Es war furchtbar, hinter seinem Sarg hergehen und ihn dann zurücklassen zu müssen.“ Seitdem besucht Tanja Brüggen jeden Tag sein Grab auf dem Waldfriedhof in Gleuel. Der Friedhofsgärtner hat eine Bank hingestellt, dort lässt sich die Mutter nieder und liest ihrem Sohn vor, auch aus den vielen Briefen, die Freunde und Klassenkameraden ihm geschrieben haben.

Der Fahrradclub ADFC erinnert mit einem „Geisterrad“ am Unfallort an den verunglückten Jugendlichen.

Am Grab treffen sich manchmal auch Tufans Freunde und spielen ihm seine Lieblingsmusik vor. K-Pop, koreanische Popmusik. „Zu Weihnachten haben sie einen Tannenbaum für ihn aufgestellt.“ Dass ihr Sohn so beliebt gewesen sei, bedeute ihr viel, sagt Tanja Brüggen. Sie sei auch dankbar für die große Anteilnahme und Unterstützung aus der Bevölkerung, die sie nach Tufans Tod erhalten habe.

Einmal in der Woche geht die Mutter zur Unglücksstelle. Familie, Mitschüler und Freunde haben dort eine kleine Gedenkstätte für Tufan eingerichtet. Sie zündet dann neue Kerzen an, damit es nie dunkel wird. Der Fahrradclub ADFC hat ein weißes „Geisterrad“ vor der Kreuzung aufgestellt, um an den verunglückten Jugendlichen zu erinnern. Bei der Bewältigung der Trauer und des Verlusts hat sich Tufans Mutter psychologische Hilfe gesucht. In Internetforen tauscht sie sich mit anderen Eltern aus, die wie sie ein Kind verloren haben.

Lkw-Fahrer wurde per Strafbefehl zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt

Der Lkw-Fahrer ist inzwischen vom Amtsgericht in Brühl zu sechs Monaten Haft auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Er hätte an der Kreuzung nicht abbiegen dürfen. Das Urteil gegen den 33-jährigen Mann, der in Polen lebt und durch den Unfall schwer traumatisiert worden sein soll, erging per Strafbefehl, also ohne öffentliche Gerichtsverhandlung. Für Tanja Brüggen ist es ein quälender Gedanke, dass sie dem Fahrer wohl nie begegnen wird. „Ich wollte ihm ins Gesicht sehen und sagen, was er uns angetan hat. Dass er unser Leben kaputt gemacht hat. Auch wenn das Tufan nicht zurückbringt.“

Die Erinnerung an ihren Sohn hält Tanja Brüggen lebendig. In seinem Zimmer hat sie nichts verändert, im Wohnzimmer hat sie eine Gedenkecke eingerichtet. Dort hängt auch ihr Lieblingsbild von ihrem Sohn: Es zeigt Tufan in seinen letzten Sommerferien in der Türkei mit einem bunten Papagei auf der Schulter. „Das ist Tufan, wie wir ihn kennen. Ein lebensfroher, freundlicher und immer hilfsbereiter Junge“, so die Mutter.

An diesem Sonntag wäre Tufan 16 Jahre alt geworden. An seinem Geburtstag will sich Tanja Brüggen mit der Familie, Tufans Schulklasse und den Lehrern am Grab treffen und Luftballons mit guten Wünschen aufsteigen lassen.