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„Der Krieg ist näher, als man denkt“Bürgermeister Zozulya über die Lage in Hürths Partnerstadt

Lesezeit 5 Minuten
Oleksandr Zozulya.

Oleksandr Zozulya, Bürgermeister von Hürths Partnerstadt Peremyschljany in der Ukraine, bei einem Besuch in Hürth.

Oleksandr Zozulya ist Bürgermeister von Hürths Partnerstadt Peremyschljany. Er berichtet, wie sich die Stadt seit Kriegsbeginn verändert hat.

Hürth und Peremyschljany in der Westukraine verbindet seit Oktober 2021 eine offizielle Städtefreundschaft. Den Kontakt knüpften Bürgermeister Dirk Breuer und sein ukrainischer Amtskollege Oleksandr Zozulya bereits 2018 in der gemeinsamen Partnerstadt Skawina in Polen. Der russische Angriff hat die Partner noch enger zusammenrücken lassen. Über die Lage in seiner Stadt äußert sich Zozulya im Interview.

Wie hat der Krieg das Leben in Peremyschljany verändert?

Oleksandr Zozulya: Unsere Stadt liegt im Westen der Ukraine in der Nähe von Lwiw (Lemberg). Hier leben etwas mehr als 24.000 Menschen. Das Durchschnittseinkommen liegt in der Ukraine bei etwa 280 Euro pro Monat, wobei dieses in unserer ländlich geprägten Region noch niedriger liegt.

Mit dem Euromaidan und der umfassenden Dezentralisierungsreform seit 2014 schauten wir positiv auf die Zukunft, auf eine Entwicklung zu mehr Wohlstand und Freiheit und auf den Prozess der europäischen Integration. Der Überfall ist der Versuch, die Entwicklung und das Freiheitsstreben zu brechen. Doch die russische Invasion hat die Gemeinschaft auch in Peremyschljany geeint.

Inwiefern?

Jeder versucht, seinen Beitrag zu leisten, um die Soldatinnen und Soldaten beim Kampf gegen die Invasoren zu unterstützen. Das Ehrenamt ist in Peremyschljany sehr stark. Die Freiwilligen sammeln Geld, um Güter zu kaufen, die an der Front benötigt werden. Selbst die Kinder helfen mit. Zunächst haben sie Tarnnetze gewebt, und heute stellen sie Grabenkerzen her, malen Bilder und schreiben Briefe, um die Verteidiger zu unterstützen.

Welche Folgen hat der Krieg noch für die Menschen?

Der Krieg führt auch zu wirtschaftlichen Problemen. Wir haben eine sehr hohe Inflation, steigende Benzinpreise und häufige Stromausfälle. Mich als Bürgermeister beschäftigt auch, dass die Finanzierung von Straßenreparaturen, die Anschaffung von Schulmaterial und viele andere Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur wegen des Krieges ausgesetzt wurden.

Wie sieht der Alltag aus?

Auf den ersten Blick sieht alles so aus wie vor dem Krieg. Die Behörden und Geschäfte sind geöffnet, die Kinder besuchen die Schulen. Doch jäh wird diese scheinbar gewöhnliche Geschäftigkeit immerzu durch den durchdringenden Lärm von Sirenen unterbrochen, die vor Raketen warnen, oder von Stromausfällen, welche die Menschen in Dunkelheit und Kälte zurücklassen.

Dann stellen alle ihre Arbeit ein, und in den Schulen gehen die Kinder mit ihren Lehrern in Schutzräume und bleiben dort, bis der Luftangriff vorbei ist und hoffen, dass sie verschont bleiben. Das kann eine Stunde, zwei, drei Stunden oder länger dauern. Abends gibt es immer wieder Ausgangssperren.

Wie nah ist der Krieg an Peremyschljany herangerückt?

Die schärfsten Kämpfe finden jetzt in der Nähe von Bachmut im Osten der Ukraine statt. Von Peremyschljany nach Bachmut sind es etwa 1000 Kilometer. Das scheint eine lange Strecke zu sein. Doch der Krieg ist näher als man denkt. Allein im Januar wurden bei Bachmut drei Söhne unserer Stadt Peremyschljany getötet. Fünf weitere Soldaten aus Peremyschljany werden derzeit vermisst.

Insgesamt wurden seit Kriegsbeginn 455 Männer aus Peremyschljany eingezogen, und 22 sind im Kampf gegen die russischen Besatzer gefallen. Jeder Tod ist eine große Tragödie. Es sind unsere Bekannten, Verwandten und unsere Freunde, die sterben. Sie hinterlassen Kinder und Familien.

Es gab Raketenangriffe in Lwiw und in anderen Orten, die nur wenige Kilometer von Peremyschljany entfernt sind. Wir hören auch gelegentlich die Überflüge der Raketen. Keiner ist vor den heimtückischen Raketenangriffen Russlands in Sicherheit.

Wie gehen die Menschen mit dem Krieg um?

Der Krieg und die damit einhergehenden Belastungen machen den Menschen stark zu schaffen, und sie machen mürbe. Doch trotz dieser belastenden Situation zeigen die Menschen ein unglaubliches Durchhaltevermögen und eine große Widerstandsfähigkeit.

Wie ist die Versorgungslage?

Die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs funktioniert weitestgehend, doch vieles ist deutlich teurer geworden. Es sind zudem die Stromausfälle, die für Schwierigkeiten sorgen. Auch die Versorgung der Flüchtlinge muss gewährleistet werden, was nicht immer einfach ist.

Wie viele Flüchtlinge leben in Peremyschljany?

Seit Beginn des Krieges hat Peremyschljany ungefähr 2000 Menschen aus dem Kriegsgebiet aufgenommen. Einige von ihnen kehrten nach der Befreiung der Regionen Charkiw, Kyiw (Kiew) und Schytomyr nach Hause zurück. Heute finden rund 400 Menschen aus dem umkämpften Osten in unserer Gemeinde Schutz, darunter über 100 Kinder. 90 Prozent aller Flüchtlinge wurden privat untergebracht.

Die Hürther haben unmittelbar nach Kriegsbeginn den ersten Hilfstransport organisiert, dem bis heute viele weitere gefolgt sind. Wie wichtig ist diese Unterstützung?

Die Unterstützung durch die Partnerstadt Hürth ist einfach großartig. Die Hilfe im medizinischen Bereich ist extrem wichtig. Ein Röntgengerät, ein Ultraschallgerät, ein Kardiograph, Medikamente, Hygieneartikel – all diese Hilfe ist enorm wichtig für das Krankenhaus hier und für unsere Gesundheitsversorgung.

Hier in unserer Stadt werden auch verwundete Zivilisten aus den Kriegsgebieten behandelt. Warme Kleidung, Notstromaggregate, Generatoren, Campingkocher, Gaskanister und Lebensmittel sind ebenfalls unerlässlich und werden in das Kriegsgebiet gesendet und zur Versorgung der Flüchtlinge genutzt. Während der langen Stromausfälle sorgt der Großgenerator, den wir aus Hürth erhielten, für eine fast ununterbrochene Wasserversorgung.

Was würden Sie sich von den Hürthern wünschen?

Ich wünsche mir, dass uns unsere Freunde in Hürth weiter im Kampf gegen die Invasoren unterstützen und uns helfen, bald wieder in Frieden und ohne Angst leben zu können. Für die Zeit nach unserem Sieg wünsche ich mir, dass wir bereits vor dem Krieg erarbeitete Projekte wiederaufnehmen können.

Zum Beispiel sprachen wir bereits über Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur unserer Stadt sowie über die Entwicklung eines Sport- und Jugendzentrums.


Hilfsaktion

Der Angriff auf die Ukraine hat eine beispiellose Hilfsaktion in Hürth für die Partnerstadt ausgelöst. Schon eine Woche nach Kriegsausbruch startete der erste 40-Tonnen-Lastzug mit Hilfsgütern in Richtung Peremyschljany. 300 Freiwillige sortierten in der Tiefgarage des Rathauses Sachspenden aus der ganzen Region.

Bis heute schickten Stadt und Partnerschaftsverein 21 weitere Sattelzüge mit 560 Europaletten an Spenden im Wert von 800.000 Euro in die Ukraine. An der Rathaus-Info können zu den üblichen Öffnungszeiten Spenden abgegeben werden. Gebraucht werden Medizinprodukte, Krankenhausbedarf und haltbare Lebensmittel.