AboAbonnieren

Interview mit Jürgen Rüttgers„Menschenwürde gilt für Alte wie Junge gleichermaßen“

Lesezeit 7 Minuten
Rüttgers Laschet

Im Wahlkampf 2017 unterstützte Jürgen Rüttgers (M.) Armin Laschet in Pulheim.

  1. Auch der frühere NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers arbeitet jetzt im Home Office.
  2. Rüttgers setzt darauf, dass mit dem Instrument der Kurzarbeit viele Arbeitsplätze gehalten werden können.
  3. Rüttgers wendet sich dagegen, die Grundrechte für ältere Menschen in der Krise anders auszulegen wie für jüngere. Ein Interview.

Rhein-Erft-KreisHerr Professor Rüttgers, wie hat sich Ihr Leben in Zeiten von Corona verändert?

Ich arbeite zu Hause. Ich habe viele Telefonkonferenzen und nutze die Zeit, um darüber nachzudenken, was die Pandemie für unsere Gesellschaft bedeutet. Und ich bin glücklich über die Menschen, die in einer bewundernswerten Art anderen Menschen helfen, den Kranken und den Einsamen.

Was sagen Sie zu dem Phänomen Hamsterkäufe?

Ich habe dafür kein Verständnis. Ich verstehe auch nicht, warum die Leute meinen, man müsste jetzt ein großes Lager zu Hause anlegen. Wichtig ist, dass die Grenzen aufbleiben, die Wertschöpfungsketten nicht zerstört werden. Wichtig ist, dass der internationale Handel weiter funktioniert.

Jürgen Rüttgers (68) wurde als Sohn eines Elektromeisters geboren. Der Pulheimer war Erster Beigeordneter seiner Heimatstadt von 1980 bis 1987. Der CDU im Rhein-Erft-Kreis saß er von 1985 bis 1999 vor. Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie war er von 1994 bis 1998. Von 2005 bis 2010 regierte Rüttgers das Land Nordrhein-Westfalen als Ministerpräsident. Rüttgers arbeitet jetzt als Rechtsanwalt und lehrt an der Universität Bonn.

Verstehen Sie, dass die Menschen tief verunsichert sind?

Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass viele Menschen Angst haben. Sie sind mit einer Krankheit konfrontiert, für die es keine Medikamente gibt, für die es keine Impfungen gibt. Niemand weiß, wie lange die Pandemie dauert, und niemand weiß, was das für das Leben jedes Einzelnen letztlich bedeutet.

Die Angst vor Ansteckung ist groß, was muss die Politik für die Gesellschaft leisten?

Die Politik muss die Entscheidungen treffen, vor allen Dingen dann, wenn die Grundrechte der Menschen eingeschränkt werden. Und je klarer sie das macht, je deutlicher sie das macht, desto besser ist es. Eine Pandemie mit dem Coronavirus haben wir noch nicht erlebt. Niemand weiß, wie es weitergeht. Jetzt, wo die Kurzarbeit gestartet ist, ist natürlich auch die Betroffenheit für viele Familien ganz unmittelbar.

Hunderttausende gehen in Kurzarbeit, viele Jobs werden voraussichtlich verloren gehen. Wird genug gegengesteuert?

Ich war Ministerpräsident, als 2008/2009 die Finanzkrise ausbrach. In Nordrhein-Westfalen ist damals die Idee entstanden, die Zahlung des Kurzarbeitergeldes zu verlängern. Das war eine ganz wichtige, segensreiche Entscheidung. Denn nachdem die Krise vorbei war, waren die Teams und Experten in den Unternehmen noch beieinander und konnten sofort wieder mit aller Kraft starten. Deswegen glaube ich, dass die Unternehmer gut beraten sind, ihre Teams weiter zu beschäftigen, wenn auch in Kurzarbeit. Erfahrene Mitarbeiter entlässt man nicht, auch nicht in der Krise.

Sie waren Bundesminister für Wissenschaft und Forschung unter Kanzler Helmut Kohl. Was ist notwendig, um für die Zukunft gerüstet zu sein?

Wir sollten uns darauf einstellen, dass auch diese Pandemie nicht die letzte ist. Wir hören jetzt immer wieder, dass es, seitdem es Menschen gibt, solche Krankheiten gegeben hat. Früher haben wir sie nur nicht zur Kenntnis genommen. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Wirkung eine andere. Es ist ganz wichtig, dass man jetzt nicht nur genügend Geld für Forschung zur Verfügung stellt. Überaus deutlich wird in diesen Tagen, dass wir die Arbeit vor allem von Pflegern und Krankenschwestern, Altenpflegerinnen und Altenpflegern mehr wertschätzen müssen. Genauso den Einsatz junger Leute aus den Unis und der pensionierten Ärzte, die sich wieder reaktivieren lassen. Wenn man deren Einsatz sieht, dann haben sie ein Recht darauf, nicht nur Schutzkleidung zu bekommen. Wir müssen auch ihre Erfahrungen in den nächsten Wochen für später nutzen. Ich denke dabei an das neue Forschungsprojekt zu Corona in Gangelt im Kreis Heinsberg. Das ist ein erstes Zeichen, wie reagiert werden kann und muss.

Im Bund wie in NRW wird über Notstandsgesetze diskutiert. Muss man wirklich so tief in Grundrechte eingreifen?

Da ist ein Punkt, der mich seit Wochen beschäftigt. Ich plädiere nicht dafür, irgendeine Entscheidung zurückzuholen. Wir müssen jetzt Geduld haben und das durchstehen. Wenn wir aber die Bedeutung, die die Grundrechte für unsere Demokratie haben, richtig einschätzen, dürfen wir Grundrechte nur auf Zeit außer Kraft setzen. Für die Menschenwürde gilt, dass alte Menschen auf keinen Fall schlechter behandelt werden dürfen als junge. Das Gegenteil ist der Fall, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt für Junge, das gilt für Alte. Das Gleiche gilt für die Einschränkung der Versammlungsfreiheit, für das Recht auf Bildung, für das Recht auf Religionsausübung. Im Grundgesetz steht, in keinem Fall dürfe ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Daran müssen wir uns auch in dieser Krise halten.

Viele Menschen haben Angst vor dem Verlust von Freiheit ...

Ich kann das nachvollziehen. Wir sind eine Gesellschaft und ein Land, die immer stolz darauf waren, dass wir hohe Freiheitsräume hatten. Und wir waren und sind stolz darauf, dass unsere Demokratie immer auf Freiheit beruht. Wir haben vor 30 Jahren, als der Kommunismus kollabierte, selbst erlebt, dass Gesellschaften ohne Freiheit auf Dauer keinen Bestand haben. Insofern müssen wir an dieser Stelle vorsichtig sein. Dennoch, in einer Zeit, wo der Höhepunkt der Krise noch gar nicht erreicht ist, muss es ein Teil der Strategie sein, die Explosion einer Pandemie auch mit gesetzlichen Einschränkungen so weit wie möglich zu verhindern. Deswegen müssen wir jetzt geduldig sein.

Und wann ist es an der Zeit, über den Ausstieg aus den vielen Einschränkungen zu diskutieren?

Ich glaube, inzwischen hat jeder, trotz dieser verunglückten Debatte in der Öffentlichkeit, verstanden, dass sich irgendwann die Frage stellt, wie man die stillgelegten Institutionen und Einrichtungen wieder in Gang bekommt. Aber nicht heute. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich die Weltwirtschaft, beispielsweise nach der Spanischen Grippe vor 100 Jahren, sehr schnell erholt hat. Damals war der Grund die Industrialisierung. Heute hilft uns die Digitalisierung und der Ausbau des neuen Giganetzes. Wichtig ist auch die Hilfe für den Mittelstand und das Handwerk.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die digitale Welt macht gerade einen gewaltigen Sprung. Wie wird sich unser Arbeitsleben verändern?

Wenn man zu Hause sitzt und arbeitet, gibt es weniger Störungen, aber auch weniger Anregungen. Insofern glaube ich nicht, dass wir eine Wirtschaft nur mit digitalen Arbeitsplätzen bekommen. Man braucht Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen, soziale Kontakte. Wir werden statt Dienstreisen mehr Telefonkonferenzen machen. Aber jeder weiß auch, dass solche Konferenzen zwar gut für den Informationsaustausch sind, aber nicht geeignet, um Konflikte zu lösen.

In der CDU gibt es Stimmen, die nun keine Kampfkandidatur mehr um den CDU-Vorsitz wollen ...

Demokratie braucht Diskussionen. Politische Auseinandersetzungen muss es geben. Wir reden in Parteien zu wenig über Inhalte. Kampfkandidaturen sind nichts Unanständiges, sie gehören zur politischen Arbeit. Konrad Adenauer hat schon 1949 bei der ersten Bundestagswahl eine große Auseinandersetzung darüber begonnen, ob wir eine Planwirtschaft oder eine soziale Marktwirtschaft wollen. Das Thema ist heute wieder aktuell. Digitalisierung bedeutet eine Veränderung in der Art, wie wir leben, wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften. Und das setzt voraus, dass wir die Grundlagenfragen in unserer Gesellschaft noch einmal stellen müssen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für unsere Region?

Neben der Digitalisierung und dem demografischen Wandel wird sich nach dem Ende der Braunkohle unsere Region verändern. Sie wird durch drei große Seen geprägt sein, in Inden, in Hambach und in Garzweiler, so groß wie die Seen in Bayern. Landrat Michael Kreuzberg hat darauf hingewiesen, dass am Forschungszentrum in Jülich ein Zentrum für Wasserstoffforschung entsteht. Wir können neben der schönen Landschaft und der Touristikwirtschaft auch eine neue Wasserstoffindustrie aufbauen. Mit Wasserstoff und Methanol können wir eine neue Energieindustrie schaffen. Wir brauchen heute keine neuen Logistikzentren, sondern eine CO2 -freie Industrie.