Arbeitnehmervertreter, Gewerkschafter und Geschäftsführungen ziehen an einem Strang. Sie fordern Entlastung für die energieintensive Industrie.
Hohe EnergiekostenBeschäftigte von Chemieunternehmen in Wesseling in Sorge um ihre Jobs
Von den Pfeifen und Ratschen, die die Gewerkschafter der IGBCE auf den Stehtischen verteilt hatten, machten viele Arbeiter, die zur „Politischen Mittagspause“ vor das Evonik-Ausbildungszentrum gekommen waren, lautstark Gebrauch. Mehr als 400 Beschäftigte der Evonik, Röhm, LyondellBasell, WeylChem und Lülsdorf Functional Solutions verliehen ihrer Forderung nach einem zeitlich befristeten Brückenstrompreis für die energieintensive Industrie Nachdruck.
„Brückenstrom jetzt!“ hatten einige von ihnen auf Schilder gemalt. „Bezahlbare Energie jetzt – Standorte und Arbeitsplätze retten!“ war auf einem Banner zu lesen.
Da war beispielsweise die Evonik-Schwerbehindertenvertretung Regina Prehl gekommen. Unumwunden sagte sie: „Wir haben hier Angst um unsere Jobs.“ Denn eines sei ihr klar: Wenn ein Unternehmer Einsparungen vornehme, dann zuerst beim Personal. Auch Auszubildende und junge Leute erzählten, dass sie sich Sorgen machten.
Mario Arrer, der heute in der Evonik-Abfallwirtschaft tätig ist, hatte das in seinem Berufsleben schon erfahren müssen. Als Einzelhändler habe er aufgeben und einen völlig neuen Job zu suchen müssen. Er gehe in vier Monaten in Rente, sagte Arrer, aber die jungen Leute würden die falschen politischen Entscheidungen hart treffen.
Solche, die sonst eher in getrennten Lagern streiten – Arbeitnehmervertreter, Gewerkschafter und Geschäftsführungen – fanden sich diesmal auf einer Bühne wieder und machten klar: „Wir ziehen an einem Strang.“
Der Standortleiter der Evonik Wesseling, Arndt Selbach, zeigte sich froh, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber beim Thema Brückenstrompreis im Schulterschluss stünden. Immerhin sei die chemische Industrie die Schlüsselindustrie hin zur CO2-Neutralität. Michael Pack, Geschäftsführer von Röhm, bezeichnete das Zusammenspiel zwischen Geschäftsführung, Betriebsrat und Gewerkschaft für gute Arbeitsplätze und starke Tarifverträge als etwas „Einzigartiges und Besonderes“. Das helfe, durch die Krise zu kommen.
„Wachrütteln“ wollte auch der Betriebsratsvorsitzende von Evonik Wesseling, Gerd Schlengermann. Er könne es nur schwer einschätzen, ob es jetzt sinnvoll sei, in China oder den USA zu investieren, zu schnell veränderten sich die geopolitischen Zusammenhänge. Er plädierte für den Industriestandort Deutschland: „Hier sind wir gut aufgestellt, hier gibt es Demokratie und Mitbestimmung, die funktioniert.“
Vor allem die jungen Arbeitskräfte forderte Patrik Gasper als Vorsitzender der Jugend- und Ausbildungsvertretung von LyondellBasell zum Protest auf. In Richtung Bundeskanzler sagte er: „Olaf, mach mal Brückenstrompreis.“
Und Bürgermeister Ralph Manzke (SPD) bekannte: „Ich bin aus Solidarität hier.“ Wenn es der Chemie in Wesseling schlecht gehe, gehe es auch der Stadt schlecht.
Die Kolleginnen und Kollegen der Chemiebetriebe sendeten ein deutliches Zeichen an Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck, fasste IGBCE-Bezirksleiter Armando Dente zusammen: „Die Zeit des Zauderns ist vorbei – Handeln ist jetzt gefragt.“ Ohne eine Entlastung bei den Strompreisen drohe ein Aderlass bei den energieintensiven Industrien und damit Verluste bei Arbeitsplätzen, Wertschöpfung und Steuereinnahmen. Die Industrie brauche wettbewerbsfähige Bedingungen, um in den Standorten in klimagerechte Transformation und Modernisierung investieren zu können, sagte Dente.
Der Chemiestandort Wesseling mit Unternehmen wie Evonik, Röhm, LyondellBasell, WeylChem und Lülsdorf Functional Solutions Evonik verbrauche so viel Energie wie alle Haushalte und die Kleinindustrie der Stadt Wesseling zusammen, schätzt Evonik-Sprecherin Stefanie Mielke.
Als energieintensive Industrie könne man das Chemieunternehmen, in dem vor allem viele Tausend Tonnen Kieselsäure jährlich aus Sand, Wasserglas und Schwefelsäure produziert werden, also getrost bezeichnen. Kieselsäure finde sich zum Beispiel in Kosmetik oder Gewürzmischungen als Rieselhilfe, vor allem sorge sie aber in Autoreifen für die nötige Haftung. Beim Herstellungsprozess entstehe zwar auch Wärme und Wasserdampf, die an anderen Stellen des Chemiewerkes zur Verfügung gestellt würden, aber es gebe auch ein Kraftwerk am Standort für die Stromproduktion aus Gas.
Anfang nächsten Jahres stehe zwar erst fest, wie der Strompreis die Bilanz der Unternehmen mit 1450 Mitarbeitern beeinflusse, aber sei die Rechnung jetzt schon deutlich: Die Energiepreise kämen auf das ohnehin schwierige wirtschaftliche Jahr noch „oben drauf“. Nicht ohne Grund habe das Großunternehmen BASF erst kürzlich 250 Millionen Euro in den USA investiert, die im Rahmen des „Inflation Reduction Act“ die Ansiedlung internationaler Firmen subventioniere. (otr)