Evonik in NiederkasselAm Anfang eine Erfindung mit Geruch

So sieht das Evonik-Gelände in heutiger Zeit aus. Links der Rhein, vorn rechts die typischen Giebel der alten Werkskolonie, Ranzel
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Niederkassel – Das Werksgelände zwischen Lülsdorf und Ranzel bildet eine Welt für sich: Hier arbeiten mehr als 400 Menschen. Evonik ist für die Stadt Niederkassel ein wichtiger Arbeitgeber. Im Schichtdienst werden hier durch Elektrolyse so genannte Alkoholate gewonnen – das Hauptgeschäft am Standort Lülsdorf. Schräg gegenüber, auf der anderen Rheinseite, liegt das Evonik-Werk Wesseling, vier Leitungen verbinden die Industrieanlagen, durchqueren den Rhein und transportieren die Gase Methanol, Ethylen und Chlor.
Was heute einem der größten Chemiekonzerne der Welt gehört, begann im kleinen Maßstab: Der Chemiker Meyer Wildermann hatte 1910 ein Verfahren zur Erzeugung von Kalilauge und Chlor entwickelt. Investor Hugo Stinnes erkannte Potenzial darin und stellte Wildermann Geld zur Verfügung, im November 1912 wurden die Verträge unterschrieben. Im Mai 1913 nahmen die ersten drei Mitarbeiter den Betrieb auf, berichtet Paul Bonsels, der lange Zeit selbst sein tägliches Brot dort verdiente. 1914 begann Schritt für Schritt die Elektrolyse, die „Deutsche Wildermann Werke Chemische Fabriken GmbH“ produzierte Ätzkali und Chlorkalk.
Das ging nicht ohne Unfälle ab, bald gab es Proteste aus der Bevölkerung. Es kam „häufig zu starken Geruchsbelästigungen und manchen Flurschäden“, hat Bonsels recherchiert, „und später vereinzelt zu Schadenersatzprozessen“. Nur wenige Bewohner der umliegenden Orte arbeiteten in dem Werk. Soziale Spannungen wuchsen, weil die gut ausgebildeten Fachkräfte im Werk ein regelmäßiges Einkommen hatten. Als 1914 der Bau einer Arbeiterkolonie begann – mit für damalige Verhältnisse komfortablen Wohnungen –, wuchs der Neid der Dörfler noch weiter. So erzählt es die Unternehmens-Chronik: „Deshalb wurde ein kultureller Austausch zwischen den Einheimischen und den Arbeitern angestrebt.“ 1920 entstand der „Männergesangverein der Deutschen Wildermann-Werke Lülsdorf am Rhein“. Er ist bis heute fester Bestandteil des kulturellen Lebens in Niederkassel. Wenn auch unter anderem Namen: „Männergesangverein der Evonik Industries“.
Überhaupt blickt das Werk auf einige Namens- und Eigentümerwechsel zurück: 1930 erwarb das damals größte deutsche Zellstoff- und Papier-Unternehmen, die Feldmühle-AG, das Werk und weitete die Kapazitäten erheblich aus. Und profitierte ab 1933 von der verstärkten Rüstungsproduktion: Allein der Stromverbrauch wuchs von 38,5 Millionen (1933) auf 75 Millionen Kilowattstunden (1939). Der Krieg verlangte immer größere Mengen Edelkorund. Es wird als Schleifmittel genutzt. Auch Zwangsarbeiter wurden eingesetzt. 1939 bis 1945 starben zehn Mitarbeiter in der Korundproduktion an der so genannten Aluminiumlunge. Wie sich später herausstellte, hatten Gase, die bei der Schmelze entstehen, die Lungen zerstört. Grund war der Verdunkelungszwang im Krieg: Damit der Feind nachts die Produktionsstätten nicht am Lichtschein der Öfen erkennen konnte, wurde die Anlage mit schwarzen Planen bedeckt. So konnten aber die gefährlichen Gase nicht mehr ins Freie entweichen. Im Frühjahr 1945 geriet das Werk unter starken Beschuss der Artillerie der Alliierten. Nach Kriegsende übernahm die britische Militärregierung die Kontrolle über die Produktion. Trotz einiger Schäden an den Anlagen ging der Betrieb bereits im September 1945 weiter: Man brauchte Chlor, um das Trinkwasser der umliegenden Städte zu desinfizieren.
Nach der Währungsunion 1948 erlebte Feldmühle einen starken Aufschwung, erweiterte die Produktpalette. Der Gierslinger Weg, bis dahin öffentliche Verbindung zwischen Niederkassel und Lülsdorf, fiel dem Werksgelände zu. Vorteil für den Betrieb: Die Straße bildete nun keine Barriere mehr zwischen Werksgelände und Industriehafen. Zum Ausgleich entstand die Feldmühlestraße. Erneuter Eigentümerwechsel in den 60er-Jahren: Dynamit Nobel übernahm, legte den Schwerpunkt auf organische Chemikalien. In den 70er Jahren erreichte die Beschäftigung mit 1600 Mitarbeitern ihren Höchststand. Inzwischen gab es in der Kolonie mehr als 200 Häuser und Wohnungen für die Mitarbeiter. 1988 übernahm der Veba-Konzern, gliederte das Werk in die Hüls AG ein; zum Jahrtausendwechsel gehörte es nach mehreren Umstrukturierungen zur Degussa AG. 2007 wurde die Firmenbezeichnung Evonik Degussa GmbH eingeführt, heute heißt es nur noch kurz „Evonik AG“.
Bei vielen Wechseln ist eines doch gleich geblieben. Geht dem städtischen Bauhof im Winter mal das Streusalz aus, kann Evonik helfen: Dort ist stets reichlich Salz vorrätig.