Gerade bei jungen Wählern gab bei der Europawahl es einen Zuwachs an Stimmen für die AfD. Über das Wahlverhalten wird viel diskutiert.
Rhein-Sieg-KreisWas hinter dem Stimmenzuwachs für die AfD bei jungen Wählern stecken könnte
Junge Wähler unter 25 Jahren haben bei der Europawahl den etablierten Parteien den Rücken gekehrt und besonders die Grünen abgestraft. Ihr Kreuzchen machten sie lieber bei Rand- und Kleinparteien – und auch bei der AfD.
„Ein großes Thema ist die Zuwanderung“, berichtet Thomas Nolden, der das Jugendcafé in Eitorf leitet. Etliche seiner Gäste – viele junge Erwachsene mit Migrationshintergrund – liebäugelten daher offen mit der AfD. „Genau die, die negativ betroffen wären“, sagt der Sozialarbeiter, „aber die beziehen diese Aussagen einer Deportation nicht auf sich.“ Dazu seien Gespräche nötig, die er intensiv führe. „Die Grünen verlieren die Jugend ganz massiv, da kann sich keiner wiederfinden“, hat er aus den Gesprächen mitgenommen. Insgesamt herrsche bei den Jugendlichen eine große Politikverdrossenheit, so Noldens Eindruck.
Viele junge Menschen fühlen sich abgehängt und ungesehen
Und die komme nicht von ungefähr: „Ich kenne so viele Beispiele, wo Jugendliche an Ideen und Projekten beteiligt waren, und es ist nie etwas umgesetzt worden.“ Abgehängt und ungesehen fühlten sich die jungen Leute, die ihre Nachmittage im Jugendcafé verbringen. „Jeder redet von Partizipation der Jugend, aber aus der Komfortzone raus will keiner.“
Denn dass auch die Jugendlichen aus der offenen Sozialarbeit angesprochen werden müssten, werde vielfach nicht gesehen. Politische Bildung finde in Hochglanzbroschüren statt und in Angeboten für Schülerinnen und Schüler aus Gymnasium und Sekundarschule. Es werde von Studienprogrammen in Europa gesprochen, „und ich habe hier Leute, die fahren nicht mal nach Hennef“, stellt der Eitorfer fest.
Auch im Jugendzentrum „Kulturcafé“ an der Ringstraße in Siegburg beschäftigt das Thema die jungen Leute. Der Nachmittagstreff ist rege besucht. Einige der Besucherinnen und Besucher durften aufgrund ihres Alters noch nicht wählen, Sam Hanikel (19), Mirco Luzak (24) und Jan Sola Schröder (24) dagegen schon. Dass die AfD bei jungen Wählern deutlich zulegte, erklären sie sich durch den Einfluss des Videokanals Tiktok. Dort wurde das Video von jungen, gut betuchten Feiernden auf Sylt, die rassistische Parolen riefen, vielfach verbreitet.
„Das Sylt-Video hat auf Social Media hohe Wellen geschlagen, und viele 16-Jährige haben die AfD daraufhin aus Jux gewählt“, sagt Sola Schröder. „Die müssen noch nicht selbst für ihr Leben sorgen und spüren die Auswirkungen der Wahlergebnisse nicht“, ergänzt Luzak. „Die AfD ist auf Tiktok aktiver als andere Parteien und spricht Themen an, die gerade im gesellschaftlichen Diskurs stehen. Aber sie bietet nur vermeintlich Lösungen an.“ Dazu sei die AfD extrem frauenfeindlich, fügt Hanikel hinzu.
Politikunterricht findet in der Schule oft erst im Abitur statt
Für die drei hängt die Beeinflussung von Menschen ihrer Altersgruppe durch soziale Medien auch mit dem Schulunterricht zusammen. „Politikunterricht hatte ich erst im Abi oder jetzt auf dem Berufskolleg“, sagt die 19-Jährige. „Man sollte da mehr über aktuelle Politik sprechen, die Inhalte der Parteiprogramme durchgehen, bevor die Schüler das erste Mal wählen dürfen“, meint Sola Schröder. „In meiner Klasse in der Berufsschule haben nur zwei von 18 Leuten gewählt“, die anderen hätten „keinen Bock“ gehabt. „Und dass die AfD davon profitieren würde, weil deren Wähler auf jeden Fall ihre Stimme abgeben, war ihnen egal“, schildert der Siegburger.
Das Thema werde in dem Jugendzentrum kontrovers diskutiert, beobachtet auch dessen Leiter Andreas Wabnik. „Da kommt auch schon mal einer, der beim Wahl-O-Mat die AfD empfohlen bekam, sie aber nie wählen wollen würde“, sagt er. Es gebe aber auch einzelne, die das offen zugäben. „Wir suchen dann das Gespräch und versuchen, den Populismus der Partei zu entlarven. Etablierte Parteien sind sehr jugendfern, bei der AfD bekommen sie einfache Antworten. Da sind wir in letzter Zeit sehr hinterher, ihnen die Folgen des Unfugs aufzuzeigen, den sie da schwafeln – etwa, wenn es um die sogenannte Remigration geht.“ Denn viele der Besucherinnen und Besucher hätten einen Migrationshintergrund.
Das „Kulturcafé“ aber sei bunt – und genau deswegen kämen die jungen Menschen her. „Sie haben verschiedene Nationalitäten oder geschlechtliche Orientierungen. Manche Leute mag man nicht, aber deswegen muss man sie nicht gleich ausgrenzen.“ Politikerinnen und Politiker sollten häufiger auf junge Menschen zugehen, fordert er. „Wir überlegen, einfach mal Ratsmitglieder freitagabends einzuladen, damit sie mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen“, berichtet der Sozialpädagoge.
Kevin Peters vom „Jugendforum Achtsam“ aus Sankt Augustin hat andere Erfahrungen gemacht. Er habe nicht beobachten können, dass es eine „einheitliche Meinungsrichtung“ zur Wahl gegeben habe. Die Jugendlichen hätten individuelle Interessen wie Klimaschutz oder ein friedliches Miteinander ohne Rassismus. Alle seien einig gewesen, „dass die Demokratie wichtig ist und dass sie geschützt werden muss“, berichtet der 24-jährige Peters, der an der Hochschule Sankt Augustin Nachhaltige Sozialpolitik studiert. Gerade die 16-Jährigen hätten sich gefreut, dass sie wählen dürften.
Parteien wollen mit jungen Menschen stärker ins Gespräch kommen
„Ja, die AfD beherrscht die Kommunikation über soziale Medien, aber wir wissen doch, dass viele Themen viel zu komplex sind, um sie in 15 Sekunden bei Tiktok oder in einem Instagram-Reel zu erklären“, sagt Marc Frings, der Vorsitzende des FDP-Nachwuchses Junge Liberale (Julis) Rhein-Sieg. Er warnt davor, junge Menschen, die ihre Stimme bei der Europawahl der rechtsextremistischen AfD gegeben haben, pauschal als „Nazis“ abzustempeln.
„Natürlich sind darunter einige überzeugte Nazis, die wir für die Demokratie verloren haben“, räumt der 19 Jahre alte Abiturient ein. „Der große Rest fühlt sich von den anderen Parteien aber nur einfach nicht abgeholt.“ Frings setzt darauf, in kommenden Wahlkämpfen noch viel mehr als bislang mit potenziellen Wählerinnen und Wählern ins Gespräch zu gehen. Er setzt auf Veranstaltungen wie beispielsweise Kickerturniere, die auch Zeit und Raum für tatsächliche politische Gespräche bieten.
„Wenn ich die eine zündende Idee hätte, wie man mehr junge Wählerinnen und Wähler von den demokratischen Parteien überzeugen könnte, säße ich vermutlich nicht mehr im Rhein-Sieg-Kreis, sondern in Berlin“, sagt Otis Henkel (22), einer von zwei Vorsitzenden der Jungsozialisten (Jusos) in der SPD Rhein-Sieg. Er setzt darauf, mehr junge Menschen für eine aktive Rolle in der Politik zu gewinnen. „Wir suchen jetzt schon intensiv nach jungen Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommunalwahl im kommenden Jahr“, schildert Henkel. So könne die SPD mehr Themen setzen, die junge Leute bewegen.
Die Leiterin des Amtes für Kinder, Jugend und Familie in Hennef, Miriam Overath, will an diesem Punkt konkret ansetzen: „Wir haben uns selbst den Auftrag gegeben, Demokratiebildung noch stärker anzugehen.“