Varressa Lombardi-Boccia besucht Menschen, die auf der Straße leben oder keine eigene Wohnung haben. Wie sie damit umgeht, wenn Menschen ihre Hilfe ablehnen.
„Das geht mir nah“Streetworkerin im Rhein-Sieg-Kreis begleitet manchmal auch das Sterben
Das Don-Bosco-Haus in Siegburg ist für wohnungslose Menschen ein wichtiger Anlaufpunkt. Doch nicht alle wollen in der Notschlafstelle übernachten. Varressa Lombardi-Boccia, Sozialpädagogin und Streetworkerin des Katholischen Vereins für Soziale Dienste im Rhein-Sieg-Kreis (SKM), besucht deswegen jeden Tag Menschen, die auf der Straße leben.
Ein umgebauter Campingbus ist ihr Büro. Darin berät sie Menschen, die in Obdachlosen-Unterkünften in Hennef und Lohmar wohnen. „Die sind überfordert mit Anträgen fürs Gericht, Jobcenter oder die Krankenkasse – ich unterstütze sie, damit sie zumindest ihre Leistungen erhalten“, sagt sie. Auch auf Menschen, die im Freien übernachten, hat sie ein waches Auge.
Unter der Autobahnbrücke in Hennef lebt ein Mann aus Polen
Die erste Station an diesem Morgen ist ein Mann, der unter der Autobahnbrücke in Hennef lebt. Lombardi-Boccia, Irokesenschnitt, Bomberjacke und Hals-Tattoos der Londoner Punkband Cock Sparrer, lenkt den Bus auf den Allner Weg, stoppt unter der Brücke. „Da sitzt er schon“, sagt sie. Grundsätzlich lehne der Mann jede Art von Hilfe ab, die 55-Jährige will ihn zumindest mit neuen Schuhen ausstatten.
„Mit ihm zu sprechen ist schwierig, er kann nur Polnisch. Wir kommunizieren immer über Handy-Übersetzer.“ Der Mann hockt hinter dem Betonpfeiler. Licht fällt durch den Spalt zwischen den beiden Brückenteilen, neben ihm steht sein mit Taschen und Jacken bepacktes Fahrrad. Aufgeweichte Prospekte liegen um den Mann herum, er sitzt inmitten seiner Fäkalien.
Die Zahl der psychisch kranken Obdachlosen nimmt zu
Er probiert die hellbraunen Winterschuhe an, vergleicht die Größe der Sohlen mit seinen ausgelatschten Sneakern. Zu klein, versucht er Lombardi-Boccia klar zu machen. „Ich komme mit anderen Schuhen wieder“, verspricht sie. „Kann ich sonst was für dich tun?“, spricht sie in ihr Handy, der Mann liest ab und gestikuliert. Er möchte Plastikflaschen haben, damit er seine Getränke umfüllen kann, Glas sei katastrophal.
„Ich war letztes Mal mit einem Dolmetscher hier, um nach der Schuhgröße zu fragen. Er sagte 43, da dachte ich, ich bringe 44 mit. Jetzt will er 45“, sagt Lombardi-Boccia ungerührt. Sie beschäftigt noch etwas anderes: Sie hatte dem Mann ein Wurfzelt gegen die Kälte geschenkt, es ist weg. „Er hat nach dahinten gezeigt, vielleicht hat er es in die Sieg geworfen, keine Ahnung.“ Wenn sie sich gerade ärgert, merkt man es ihr nicht an. Vermutlich kann sie bloß noch wenig überraschen.
„Ich mache das seit fünfeinhalb Jahren", sagt sie. Seither unterstütze sie auch im Umgang mit Behörden. Doch für psychisch kranke Menschen gebe es keine andere Möglichkeit, als sie in einer Notschlafstelle wie dem Don-Bosco-Haus unterzubringen. „Und die Zahlen nehmen zu. Eine Sozialwohnung für jemanden zu finden, ist ein Sechser im Lotto – das wurde einfach versäumt“ sagt sie.
„Die Anwohner rufen uns an und fragen, warum wir nichts machen. Aber viele wollen sich einfach nicht helfen lassen.“ Dabei sei das Leben auf der Straße gefährlich. „Für Frauen sowieso, die werden vergewaltigt. Ich kenne auch jemanden, der wurde auf der Straße gefoltert und ist so traumatisiert, dass er nicht darüber spricht.“ Mit viel Vertrauen habe sie den jungen Mann zumindest in eine Notschlafstelle vermitteln können. „Die denken immer, ich sei vom Amt – aber so sehe ich ja nun wirklich nicht aus, das hilft.“
Es geht weiter nach Oberpleis in Königswinter. Hier, auf einem Campingplatz, lebt Jupp. „Der hat sein ganzes Leben als Lkw-Fahrer gearbeitet und seine Rente reicht nicht für eine Wohnung. Deswegen lebt er in einem Wohnwagen“, sagt sie. Man müsse nicht erst sozial abstürzen, um wohnungslos zu werden. „Da reicht eine Scheidung. Einer zieht aus, findet nichts Neues und muss in die Notschlafstelle. Mit all den drogenabhängigen und psychisch kranken Menschen dort führt das natürlich zu Konflikten.“
Jupp heißt die Besucher willkommen. Sein Reich besteht aus einem Wohnwagen mit Bretter-Vorzelt. Darin befindet sich die Küchenzeile, neben der Sitzecke läuft der Fernseher, hinten befindet sich das Bett. Jupp erzählt Lombardi-Boccia, dass er im Krankenhaus war und sein Insulin zu gering eingestellt wurde.
Der 66-Jährige lebt seit einigen Jahren auf Campingplätzen. „Das kostet mich derzeit 400 Euro. Ich bekomme 700 Euro Rente, 200 Euro Wohngeld. Von 900 Euro kriege ich keine Wohnung“, sagt er. Dass er Wasser mit einem Kanister holen muss, störe ihn nicht.
Aber an der Straße halte nur der Schulbus morgens und nachmittags, ins Dorf zu laufen schaffe er nicht, die Knie. Jupp hat zwar einen Roller, aber der sei kaputt, der Verkäufer habe ihn da über den Tisch gezogen. Es wird deutlich, dass er sich freut, dass ihm jemand zuhört.
Die Streetworkerin begleitet manchmal auch das Sterben
Er schiebt Lombardi-Boccia zwei Geldscheine zu. Ob sie wieder für ihn einkaufen könne. „Ich schaue später in der Unterkunft in Dahlhausen vorbei, dann bringe ich dir was“, verspricht sie. Jupp hat auch Ärger mit den Ämtern. „Die Mitarbeiter da sind unfreundlich, wimmeln dich ab, als wärst du ein Stück Dreck“, sagt er. Lombardi-Boccia kennt Berichte wie diesen.
Manchmal, schildert sie, fahre sie zu einem Klienten und der sei gestorben, einsam, allein. „Alkohol ist die schlimmste Droge. Dann sterben die mit 45, 50 Jahren. Und wenn sie niemanden haben, sitze ich im Krankenhaus und halte Händchen, bis sie sterben. Das geht mir dann auch nah, weil ich sie lange kannte.“
Auf dem Rückweg ruft Jupp sie nochmals an. Ob sie seine Einkaufsliste gesehen hätte, die Haken bei WhatsApp seien nicht blau. „Der hat nix mehr zu essen. Deswegen ist ihm das so wichtig“, sagt Lombardi-Boccia. Sie ist spät dran, den Besuch bei der Unterkunft in Hennef hat sie heute fest eingeplant. Doch den Einkauf für Jupp, den wird sie auch noch erledigen.