In der Selbsthilfegruppe „Liebenswert“ unterstützen sich Frauen aus Rhein-Sieg, die Missbrauch oder körperbezogenes Mobbing erlebt haben.
SelbsthilfegruppeWie Opfer lernen, nach sexuellen Übergriffen wieder Nähe zuzulassen

Vielen Betroffenen von Missbrauch und Übergriffen fällt es schwer, ein positives Körpergefühl zu bewahren und Nähe zulassen zu können.
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Seit Jahren fühlte sie sich mit ihren Schwierigkeiten, nach einem Übergriff wieder Nähe und Sexualität zuzulassen, allein. In einer psychotherapeutischen Behandlung konnte sie vergangene Ereignisse zwar aufarbeiten, doch die daraus resultierenden Schwierigkeiten im Hier und Jetzt blieben.
„Auch die Suche nach Unterstützungsangeboten und Informationen zum Thema war ernüchternd. Irgendwann kam dann der Gedanke, dass es vielleicht auch anderen Frauen so geht.“ Das berichtet die Gründerin der Gruppe „Liebenswert“, in der sich Frauen austauschen, die Missbrauch, Vergewaltigung oder körperbezogenes Mobbing erfahren haben.
Kein Übergriff, keine Missbrauchserfahrung ist harmlos
Das Gespräch mit einer anderen Betroffenen habe den entscheidenden Anstoß gegeben. Im März vergangenen Jahres ging die Gründerin, die ebenso wie die weiteren Gruppenmitglieder anonym bleiben möchte, auf die Selbsthilfekontaktstelle des Rhein-Sieg-Kreises zu. Im Oktober folgte das erste Gruppentreffen, seitdem trifft sich die „Liebenswert“-Gruppe an jedem zweiten Samstag im Monat.
„Schwerpunkt der Gruppengespräche soll die Gegenwart und der Blick nach vorne sein, nicht vergangene Erlebnisse“, sagt die Gründerin, die unsere Fragen mit der gesamten Gruppe beantwortet hat. Durch einen offenen Austausch verfolgen die Betroffenen das gemeinsame Ziel, nach beispielsweise Übergriffen wieder ein positives Körpergefühl und eine selbstbestimmte Sexualität zu entwickeln.
Die Selbsthilfegruppe „Liebenswert“ richtet sich an Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Aktuell bestehe die Gruppe nur aus Frauen, die sexuelle Übergriffe erfahren hätten - man sei aber auch offen für andere Teilnehmerinnen.
Schwerpunkt der Gruppengespräche soll die Gegenwart und der Blick nach vorne sein, nicht vergangene Erlebnisse
„Uns ist es wichtig, zu betonen, dass es keine zu unbedeutenden Übergriffe gibt“, teilen die Gruppenmitglieder mit. Betroffene schlügen sich oft mit dem Gedanken herum, dass andere sicherlich viel Schlimmeres erlebt hätten. Es gelte aber: „Jede, die sich von dem Thema angesprochen fühlt, ist willkommen.“
Voraussetzung ist eine bereits abgeschlossene oder laufende Psychotherapie. „Die Selbsthilfegruppe kann und soll kein Ersatz für eine Traumatherapie sein“, betont die Gründerin. Interessierte können sich bei der Selbsthilfekontaktstelle melden und, wenn gewünscht, gleich am kommenden Gruppentreffen teilnehmen. Ihnen entstehen keine Kosten.
Die Treffen beginnen, wenn neue Mitglieder dazukommen, mit einer kleinen Vorstellungsrunde und dem Erklären der Gruppenregeln. Jede Betroffene kann anschließend mitteilen, wie es ihr geht und was ihr aktuell auf dem Herzen liegt.
Gemeinsam Herausforderungen wie Schwimmbadbesuche meistern
Die Verantwortung für die Treffen tragen alle Gruppenmitglieder gleichermaßen, eine Leitung gibt es nicht. Gemeinsam haben sie beschlossen, vorab keine Themen festzulegen, sondern den Inhalten nachzugehen, die sich im Laufe des Gesprächs ergeben. Ideen für besondere Treffen könne jede Teilnehmerin einbringen. Für die Zukunft plane man beispielsweise, Sexualtherapeutinnen einzuladen oder sich gemeinsam herausfordernden Situationen wie einem Schwimmbadbesuch zu stellen.
Das Spektrum an Themen umfasse alles, was im weitesten Sinne mit Körper und Körpergefühl, Nähe, Intimität und Sexualität zu tun habe, berichten die Gruppenmitglieder: „Von persönlichen Erfahrungen bis zu gesellschaftlichen Erwartungen. Von körperlichen Veränderungen während der Pubertät bis zu körperlichen Veränderungen während einer Schwangerschaft. Von Berührungen bis zu penetrativem Sex.“
Es ist wichtig, dass nicht nur langjährige und drastische Übergriffe, sondern jede Form von Übergriffen ernst genommen wird.
Ein respektvoller Umgang und Vertraulichkeit der besprochenen Themen sind zentrale Regeln für die „Liebenswert“-Gruppe: „Das bedeutet vor allem, dass respektiert wird, dass jede Teilnehmerin ihr eigenes Tempo und individuelle Grenzen hat und unterschiedliche Dinge als hilfreich empfinden kann. Niemand soll zu irgendetwas gedrängt werden.“
Es komme auch vor, dass Teilnehmerinnen während eines Gesprächs feststellen müssten, dass aufkommende Themen sie stark belasteten. Hier gebe es jederzeit die Möglichkeit, Stopp zu sagen, betont die Gruppe: Stopp-Karten sollen dies erleichtern.
Betroffene unterstreichen: Es gibt zu wenig Hilfsangebote
„Die Gruppe bedeutet für uns, einen geschützten Raum zu haben, in dem wir offen über schwierige Themen sprechen können“, schreiben die Betroffenen. Ein tiefgehendes Verständnis, wie sie es dabei erfahren, könne vielleicht nur unter Betroffenen in diesem Ausmaß entstehen. Die Frauen erkennen gemeinsam, dass sie mit ihren Emotionen und Problemen nicht allein sind und lernen vom Umgang der jeweils anderen.
Sie teilen auch den Wunsch, dass die Tragweite des Themas ihrer Selbsthilfegruppe der Gesellschaft deutlicher werde: „Auch Jahre nach den Übergriffen kämpfen Betroffene noch mit den Auswirkungen. Es ist wichtig, dass nicht nur langjährige und drastische Übergriffe, sondern jede Form von Übergriffen ernst genommen wird.“
Insgesamt gebe es diesbezüglich zu wenige Hilfsangebote, unterstreichen die Betroffenen. Das Besprechen von aus Gewalterfahrungen resultierenden Schwierigkeiten kommt nach der Erfahrung der Gruppenmitglieder von „Liebenswert“ in gängigen Psychotherapien zu kurz, „und Behandlungen wie Sexualtherapie oder Körpertherapie müssen in der Regel selbst gezahlt werden, was für die meisten von uns finanziell nicht erschwinglich ist“.
Die Teilnehmerinnen von „Liebenswert“ freuen sich über das Interesse neuer Gruppenmitglieder. Auch einige Frauen über 40 haben sich bereits gemeldet, die sie zum aktuellen Zeitpunkt allerdings nicht aufnehmen können. Die Selbsthilfegruppe betont: „Wir fänden es großartig, wenn sich einige Frauen Ü40 finden, die die Initiative ergreifen und eine zweite Gruppe gründen.“
Betroffene, die sich für die Selbsthilfegruppe „Liebenswert“ interessieren, können sich an die Selbsthilfe-Kontaktstelle des Rhein-Sieg-Kreises wenden. Diese ist montags und mittwochs von 9 bis 14 Uhr sowie donnerstags von 11 bis 16 Uhr erreichbar unter 02241/949999 oder per E-Mail.