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Waldorfschule Sankt Augustin„Wir sind keine Hippies“

Lesezeit 6 Minuten

"Komödie der Eitelkeit" von Elias Canetti, Klassenspiel der 11. Klasse

Sankt Augustin – Wenn Alena Töpke und Roland Joisten erzählen, dass sie eine Waldorfschule besuchen, werden sie oft sofort mit Klischees bombardiert: „Kannst du deinen Namen tanzen?“ ist einer der häufigsten Sprüche. Dann folgt meist entweder „Euer Abi ist doch geschenkt, ihr bekommt ja keine Noten!“ oder „Stimmt es, dass ihr kein Fast-Food esst?“

Als die beiden 2002 in die Freie Waldorfschule in Sankt Augustin-Hangelar eingeschult wurden, ahnten sie nicht, dass ihre Schullaufbahn als ungewöhnlich gelten könnte. Jetzt, im zwölften und vorletzten Schuljahr, können sie die Vor- und Nachteile gegenüber einer Regelschule klarer einschätzen.

Die Entscheidung für die Waldorfschule trafen einst ihre Eltern. Rolands Mutter war als Mädchen selbst Waldorf-Schülerin, ihr Vater ist Lehrer an der Hangelarer Waldorf-Schule. Die Familie des 17-Jährigen wohnt im Ort. Alena, aus Siegburg-Braschoß stammend, hatte zuvor schon einen Waldorfkindergarten besucht, ihre Eltern waren aber beide auf Regelschulen.

Der Schultag beginnt für die beiden morgens mit einer Doppelstunde sogenannten Epochenunterrichts. Das bedeutet nicht, dass Alena und Roland Informationen über die Romantik oder Klassik vermittelt bekommen, sondern dass sie rund einen Monat lang morgens in nur einem Fach unterrichtet werden. „So findet der nächste Mathe-Unterricht beispielsweise erst wieder nach einigen Monaten beziehungsweise im normalen Wochenplan statt“, sagen die beiden. Den Rest des Tages füllten andere Fächer, darunter Russisch, das als zweite Fremdsprache schon ab der ersten Klasse unterrichtet wird. „Das ist aber kein typisches Waldorf-Fach, andere Schulen lehren Französisch, unsere eben Russisch“, sagt die 18-jährige Alena.

„Die ersten Unterschiede gegen über staatlichen Schulen wurden uns erst so ab der vierten, fünften Klasse bewusst, als viele Freunde und Bekannte auf weiterführende Schulen gingen“, erzählt Alena. Als andere neue Lehrer bekamen, behielten die beiden ihren bekannten Lehrer bis zur achten Klasse. „Zusätzlich zu den Kernfächern bekamen wir noch die ganzen künstlerisch-praktischen Fächer dazu, in denen man beispielsweise lernte, Holz oder Metall zu bearbeiten“, erzählt Roland. „Es wird immer drauf geachtet, dass das Praktische einen Bezug zum Theoretischen hat“, erklärt Alena.

„Wenn wir in Biologie den Körper des Menschen kennenlernen, modellieren wir in einem anderen Fach passend dazu Gesichter, um die Formen des Gesichts besser zu begreifen.“ Rudolf Steiner, Vater der Waldorfpädagogik, habe mit mit dieser Methode darauf gezielt, die Lernfähigkeiten des Gehirns zu verbessern.

Präsentiert werden all diese Arbeitserzeugnisse unter anderem in sogenannten Monatsfeiern, die drei Mal im Jahr stattfinden. „Dort zeigen dann alle Klassenstufen der Schule ihre Ergebnisse aus dem Unterricht. Das kann Eurythmie sein, aber auch Gedichte und Lieder“, berichtet Alena.

Man bereite sich sehr intensiv auf künstlerische Veranstaltungen wie die Monatsfeiern und Theateraufführungen vor. Dabei helfe auch das starke Gemeinschaftsgefühl im Klassenverbund – die Freie Waldorfschule in Hangelar ist nämlich einzügig. „Wir verbringen also 13 Schuljahre mit denselben Leuten“, erklärt die Siegburgerin. „So entwickelt sich besonders ab der neunten Klasse ein starker Zusammenhalt.“

Benotet werden die Schüler für ihre Leistungen nicht – bis zur 9. Klasse. „Vorher erhält man eine schriftliche Bewertung, aus der man allerdings leicht herauslesen kann, ob man gut oder schlecht mitgearbeitet hat“, erläutern die beiden. Bewertet würden das Epochenheft, Notizen und Zeichnungen. „Ab der Zehn kommen dann auch noch Noten von Sehr gut bis Ungenügend dazu, in der Oberstufe sieht unser Zeugnis dann auch aus wie an einer Regelschule.“

Das hänge unter anderem damit zusammen, dass die Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen sich dem Niveau der staatlichen Schulen anpassten, um ihren Schülern die selbe Qualität der Abschlüsse bieten zu können. „Wir schreiben beispielsweise in der 11. Klasse die Zentrale Abschlussprüfung mit. Vorher haben wir keinen Abschluss“, sagt Alena. Diese Anpassung an staatliche Schulnormen sei für Waldorfschulen aber untypisch.

So bleibt also auch den Sankt Augustinern Leistungsdruck nicht erspart. Er beginne spätestens ab der Elf, während er an den Regelschulen ja schon ab der fünften Klasse bestehe. „Dass man zwei Stunden an den Hausaufgaben sitzt, ist bei uns vor der Oberstufe eher selten der Fall“, sagt Roland.

In der zwölften Klasse stecken die beiden also mitten in den Abiturvorbereitungen, die auf die selben Prüfungen hinauslaufen, wie sie an Regelschulen geschrieben werden. Dies beziehe sich aber nur auf die Klausuren. Alena und Roland werden in acht Fächern geprüft. „Unser Abi ist damit sogar schwerer als an Regelschulen“, finden sie. „Vor allem, weil in fast keinem Fach eine Vorbenotung durch Klausuren und mündliche Mitarbeit stattfindet. Die Abiturklausuren machen also 100 Prozent der Note aus.“

Um Einblick in die Berufswelt zu gewinnen, absolvieren die Schüler zwischen der achten und zwölften Klasse gleich fünf Praktika. „Sie sind allesamt themenorientiert. Im Agrarpraktikum beispielsweise leben alle drei Wochen auf einem Bauernhof irgendwo in Deutschland“, erzählt Roland. Alena zog es damals ins Allgäu. Die sprachinteressierte junge Frau denkt über ein duales Studium nach dem Abitur nach, während Roland eher vom Ingenieurswesen angetan ist.

Und – können sie und Roland denn nun ihre Namen tanzen? „Wir könnten es“, klärt Roland auf. In der Eurythmie gehe es unter anderem darum, Töne, Harmonien und Laute durch Körperbewegungen in das Alphabet umzusetzen, erklärt er. „Daher kommt der Glaube, wir könnten unsere Namen tanzen. Diese Aufgabenstellung hat es aber nie gegeben“, sagt Alena.

Eine Art Tanzkurs mit pädagogischem Hintergrund also? „Mit Tanzen hat das weniger zu tun, auch wenn es ein Laie so einschätzen würde“, sagt Roland und fügt hinzu: „Ist aber auch absolut nicht mein Ding.“ Die allermeisten Vorurteile seien blühender Blödsinn. „Ich trage zwar gerne Strickpullover, die sind aber gekauft“, sagt Roland. „Alle in der Klasse haben schon mal Fast Food gegessen und wir tragen auch ganz normale Klamotten.“ Alena ergänzt: „Wir sind keine Hippies.“

Fragt man sich nicht schon manchmal, was für einen Sinn ein Fach wie Eurythmie hat? „Schon“, gibt Roland zu. Aber das frage man sich doch bei Deutsch oder Mathe hin und wieder auch. „Es geht nicht darum, den Sinn darin zu sehen“, ergänzt Alena, „sondern den Entwicklungsprozess auf sich wirken zu lassen.“

Auch wenn ein Drittel ihres Jahrgangs abwanderte, die meisten nach der elften Klasse, sind sie und ihr Klassenkamerad doch überzeugt, dass ihre Eltern damals die richtige Entscheidung getroffen haben, als sie die Waldorfschule wählten. Alena: „Man sieht besonders bei den Quereinsteigern, die später zu uns gekommen sind, dass sie froh sind, gewechselt zu haben.“ Ihren „künstlerischen Abschluss“ haben die beiden übrigens am 28. März. Da kann man sehen, was sie im Unterricht so gemacht haben.