„He Schiri, geh nach Hause!“ Mit derlei Sprüchen muss die junge Schiedsrichterin Ada Pur leben. Warum sie ihren Job dennoch liebt.
Ada Pur ist 15 und Schiedsrichterin„Im Grunde opfere ich meine Zeit, um mich beleidigen zu lassen“
Das Spiel ist fast zu Ende, als ein schriller Pfiff über den Platz tönt. Ada Pur baut sich mit straffen Schultern vor einem Troisdorfer Jungen im roten Trikot auf und reckt die gelbe Karte in den wolkenlosen Himmel. Ein Lövenicher Spieler in Weiß wälzt sich auf dem Boden. Keine Ballberührung, dafür zielsicher den Gegenspieler getroffen. Klare Entscheidung. Der Junge in Rot senkt den Kopf und trabt weiter. Der Ball rollt wieder. Die D-Jugend Lövenich steht an diesem sengend heißen Nachmittag im August kurz vor einem 1:0-Erfolg. Auswärtssieg.
Den Zuschauern mangelt es an Respekt
Ada Pur ist seit ein paar Monaten Schiedsrichterin im Rhein-Sieg-Kreis. Fünfzehn Jahre ist sie alt, also kaum älter als die Spieler, die sie unter Kontrolle haben muss. Aber die Jungs selber, die sind für Pur keine große Herausforderung. „Mit denen komme ich gut klar, die meckern wenig“, sagt sie und lacht. Schwieriger sind da schon die Personen am Spielfeldrand. Die Trainer seien oft „sehr aggro“, sagt Pur. Aber nicht der einzige Störfaktor.
85 Prozent der aktiven Schiedsrichter gaben in einer Umfrage des Fußballverbands Mittelrhein den mangelnden Respekt der Zuschauer als Problem an. In Troisdorf sind das die aufgebrachten Eltern, die da unter Sonnenschirmen sitzen und bewertend auf den Rasen brüllen: „He Schiri, geh nach Hause!“ oder „Die sieht doch nichts! Guck dir mal die Brille von der an!“ Einmal sei sie in einem Job als Linienrichterin sogar angespuckt worden. Die Eltern seien oft übermotiviert, sagt Pur, „die tun so, als sei das, was ihr Kind da gerade spielt, das Finale des Jahres“.
1,2 Millionen Fußballspiele jede Woche
Rund 50.000 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter sind nach Angaben des Fußball-Verbands Mittelrhein (FVM) deutschlandweit im Einsatz. 1,2 Millionen Fußballspiele werden jedes Jahr angepfiffen. Auf Plätzen des Fußballverbands Mittelrhein sprinten davon bei gut 65.000 Spielen im Jahr etwa 2000 Unparteiische auf und ab, den Ball jede Sekunde fest im Blick. Generell herrsche aber ein eklatanter Mangel an Freiwilligen. „Die Zahl ist seit Jahren rückläufig“, sagt Bernd Peters aus dem Schiedsrichter-Lehrstab des FVM.
Eine Mitschuld trage auch der oftmals respektlose Umgang mit Schiedsrichtern auf dem Feld. „Wir haben keine statistischen Zuwächse bei Gewaltvorfällen, aber stellen doch eine Verrohung der Sitten fest“, sagt Peters, der auch Adas Pate ist und sie bei den ersten Spielen begleitet hat. „Das ist eine generelle gesellschaftliche Entwicklung, die sich auf dem Fußballplatz widerspiegelt.“ Das reicht von Beleidigungen über Gewaltandrohungen bis zu tätlichen Angriffen. „Mich hat mal ein Trainer in die Kabine verfolgt, die Faust erhoben und gesagt, er würde mir nun zeigen, wer hier der Herr im Haus sei“, sagt Peters. In diesem Fall verhängte das Sportgericht eine sechsmonatige Sperre. Beleidigenden oder drohenden Zuschauern sei da weniger leicht habhaft zu werden. „Wenn die einen falschen Namen angeben, kann man sie quasi kaum zur Verantwortung ziehen.“
Als Belohnung winkt freier Eintritt beispielsweisen zu Spielen des 1. FC Köln oder Bayer Leverkusen
Spätestens während der Corona-Pandemie schlug zudem die natürliche Fluktuation tiefe Schneisen in die Schiedsrichterkader. „Wenn die Leute in den Beruf einsteigen oder irgendwann zu alt für das Ehrenamt werden, hören sie auf. Da wir aber fast keine Lehrgänge während der Coronazeit anbieten konnten, kam kein Nachschub. Der fehlt uns heute“, sagt Peters. Den Amateurfußball stelle das zunehmend vor Probleme. „Gerade in der Kreisliga, aber auch in den unteren Jugendklassen sind eigentlich jedes Wochenende Spiele unbesetzt.“
Mit dem „Jahr der Schiris“ will der DFB dem Trend nun entgegenwirken. Als Belohnung winkt nicht nur eine Aufwandsentschädigung, sondern auch freier Eintritt zu den Spielen aller Profivereine auf Bundesebene. Die Aktion ist erfolgreich. „Wir haben dieses Jahr so viele Neuanmeldungen wie noch nie“, sagt Peters. 368 neue Schiedsrichterlizenzen hat der FVM im laufenden Jahr bis September in bislang 18 Lehrgängen vergeben. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr waren es im ganzen Jahr 16 Lehrgänge. Ada Pur ist eine, die sich überzeugen ließ.
Dabei liegt der Einstieg ins Unparteiischen-Business gar nicht auf Purs direktem Lebensweg. Die Gymnasiastin spielt Gitarre, tanzt Hip-Hop, übt Yoga, kocht und backt und liest gerne Hermann Hesse. Fußball kennt sie nur von den Fernsehwochenenden mit ihren Eltern. „Seit ich klein bin, läuft da dauernd FC und türkische Liga“, sagt Pur. „Da wurde auch immer wieder über die Schiri-Entscheidungen gemeckert“, außerdem regen sich die Eltern immer wieder darüber auf, dass viel zu wenige Frauen an der Pfeife aktiv seien.
Und dann habe sie im vergangenen Winter auch noch ein Buch gelesen, in dem es hieß, der Mensch müsse aus seiner Komfortzone raus, sich neuen Herausforderungen stellen, sich überwinden. Das Schiedsrichter-Cluster verdichtet sich. Ada Pur recherchiert kurzerhand im Netz und meldet sich bei einem dreitägigen Lehrgang beim SV Menden an. Auch zur Persönlichkeitsentfaltung. „Ich bin generell ein mutiger und selbstbewusster Mensch. Aber ich weiß auch: Da geht noch mehr.“
Pur behält den Ball im Blick. Ihr seitliches Traben ist wie magnetisch gesteuert im 90-Grad-Winkel und im immer ungefähr gleichen Abstand zum Flugobjekt ausgerichtet. Ein schnelles Dribbling über die Außen und Ada Pur richtet sich neu aus. Ein steiler Pass in den Strafraum und Pur rennt näher ran. Sie gestikuliert. Einwurf für Troisdorf.
Im Grunde, sagt Pur und lacht, opfere sie ihre Zeit, um für 25 Euro pro Spiel auf dem Platz zu stehen, sich beleidigen zu lassen und danach wieder nach Hause zu gehen. Aber da seien natürlich auch viele positive Dinge: Das soziale Umfeld auf dem Fußballplatz, die Fitness, die Möglichkeit, Entscheidungen treffen zu können. Ada Pur weiß, dass sie nicht alles richtig machen kann. „Eine der wichtigsten Dinge, die ich lernen musste, war vielleicht deshalb auch: Falls du eine Fehlentscheidung triffst, musst du das sofort vergessen. Denn das Spiel geht sofort weiter.“ Wer auf dem Platz hadere und grüble, der verpasse vielleicht sofort das nächste Abseits.
Eine andere Regel: Sich auf keine Diskussionen einlassen. „Wenn mich jemand anschnauzt oder mich überreden will, dann ignoriere ich das einfach.“ Einer aktuellen Umfrage im Amateurfußball-Barometer zufolge fördert der Schiedsrichter-Job neben der Fitness die Entscheidungskompetenz, den Umgang mit Menschen und das Selbstvertrauen. Auch Ada Pur sieht ihre Persönlichkeit gefestigt. „Am Anfang hatte ich viel Angst. Jetzt ist es mir egal. Ich bin selbstbewusster geworden, auch abseits des Rasens. Die Meinung anderer ist irrelevanter. Ich bin viel fokussierter auf mich selbst.“
Schlusspfiff in Troisdorf. Lövenich holt aus dem umkämpften Spiel drei Punkte. Der Trainer, der beim Halbzeitstand von 0:0 noch wild gestikulierend und väterlich unzufrieden auf die Unparteiische eingeredet hatte, klatscht sie nach dem Sieg nun anerkennend ab. Zum Abschied reckt er lobend den Daumen.